„Das kann ein Afghanistan 2.0 für Putin werden“

In der Ukraine droht ein schrecklicher Guerilla-Krieg

Was will Putin? Das fragt sich die Welt seit Wochen und ringt um Antworten.

Mit dem Angriff auf die Ukraine hat er Russland in eine Ecke manöviert, aus der es keinen Ausweg gibt. Ihm droht der Zerfall seines Reiches und die Anklagebank in Den Haag.

Während die Suche nach Motiven weiter geht, ist es an der Zeit zu fragen:

Was will die NATO?



In den vergangenen Wochen sind diverse Berichte aufgetaucht, aus denen hervorgeht, dass die CIA seit Jahren ukrainische Spezialeinheiten ausgebildet hat, um im Falle einer russischen Invasion einen regelrechten Guerillakrieg in der Ukraine loszutreten.

Strategische Studien eines Pentagon-nahen Think Tanks legen nahe, dass die USA großes Interesse daran hatten, dass genau das eintritt.

Denn der russische Versuch, ein Land von der vierfachen Größe Englands zu kontrollieren, mit einer Bevölkerung von 40 Millionen, eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, Russland militärisch und wirtschaftlich auszubluten.

Es lockt ein Afghanistan 2.0, geformt nach dem Vorbild der 1980er Jahre, als islamische Widerstandskämpfer sowjetische Flugobjekte mit amerikanischen Stinger-Raketen vom Himmel holten.

Es folgte der Zusammenbruch der Sowjetunion, der allerdings keinen wirklichen Abschluss fand: Nach zehn Jahren Chaos setzte sich Vladimir Putin 1999 im Kreml fest und entwickelte Ambitionen, sein gerupftes Heimatland wieder auf Augenhöhe zu bringen.

Jetzt könnte sich die Gelegenheit bieten, das zu vollenden, was nach 1989 auf halbem Wege stecken geblieben ist – nämlich die endgültige Zerschlagung des russischen Imperialismus.

Schauen wir uns einige Texte an, die diese These belegen könnten.



Im April 2019 veröffentlicht die RAND Corporation – einer der wichtigsten Think Tanks Amerikas, der dem Pentagon zuarbeitet – eine lange Studie mit dem Titel: „Extending Russia“, oder: „Wie lässt sich Russland überdehnen.“

(Anzumerken ist, dass die Kurzversion der Studie einen aggressiveren Titel trägt: „Overextending and Unbalancing Russia“, oder: „Wie lässt sich Russland bis zur Schmerzgrenze überdehnen und aus der Balance bringen.“)

Die alten Feinde des Kalten Krieges, stellt RAND in bürokratischer Militärsprache fest, befänden sich wieder im „Großmachtstreit“ und die USA müssten nach Wegen suchen, dem Rivalen Schmerzen zuzufügen:

In der Erkenntnis, dass ein gewisses Maß an Wettbewerb mit Russland unvermeidlich ist, führten RAND-Forscher eine qualitative Bewertung von `kostenauferlegenden Optionen´ durch, die Russland aus dem Gleichgewicht bringen und überfordern könnten.

Größte Schwachstelle sei die Wirtschaft, die mit umfassenden Sanktionen zu überziehen sei. Hier fehle jedoch die Kooperationsbereitschaft Europas, vor allem Deutschlands.

Außerdem spricht der Bericht von „geopolitischen Maßnahmen“ (geopolitical measures), die den Rivalen aus der Balance bringen könnten; dazu gehören Waffenlieferungen an syrische Rebellen sowie Regime-Change-Maßnahmen in Belarussland und Zentralasien.

Noch wichtiger sei jedoch der schwelende Konflikt im Donbass:

Eine Intensivierung der Militärberatung und vermehrte Waffenlieferungen an die Ukraine sind die praktikabelsten dieser Optionen mit der größten Wirkung (..) Das ukrainische Militär blutet Russland bereits in der Donbass-Region aus (..). Die Bereitstellung von mehr US-Militärausrüstung und Beratung könnte Russland dazu veranlassen, seine direkte Beteiligung an dem Konflikt und den Preis, den es dafür zahlt, zu erhöhen. Russland könnte mit einer neuen Offensive reagieren und mehr ukrainisches Territorium erobern.

Im Klartext heißt das: Es ist im Interesse der USA, genau das zu provozieren.


Auch der BND weiß um die Vorteile des Guerilla-Kriegs.

Zwei Jahre später. Nachdem Präsident Wolodimir Selenskij angekündigt hat, die Krim an die Ukraine zurückzuholen, schickt Russland im März 2021 tausende Truppen an die Grenze.

William Courtney, einer der Geschäftsführer der RAND Corporation, stellt am 26. April fest:

Ein erneuter Krieg könnte hohe Verluste bringen und würde damit der Präferenz des Kremls für risikoärmere Militäraktionen zuwiderlaufen.

Der Grund für die Risikoscheue:

In den 1980er Jahren starben bei jahrelangen Kämpfen in Afghanistan mindestens 15.000 einfallende sowjetische Soldaten. Das hatte demoralisierende Wirkung. (..) Der Kreml könnte in der Ukraine die gleichen Fehler begehen wie damals die sowjetischen Machthaber in Afghanistan.



Dezember 2021. Die Lage spitzt sich weiter zu. Der gleiche Autor legt offen, dass die USA seit 2014 2.5 Milliarden US Dollar in das ukrainische Militär investiert haben, für genau diesen Fall:

Während die Ukrainer möglicherweise nicht in der Lage sind, eine groß angelegte Invasion zu besiegen, könnten sie hohe Verluste verursachen, was ein heikles Thema in Russland ist. Die Besatzungstruppen könnten ausgedünnt werden und damit anfällig sein für Angriffe von Stay-behind-Truppen.

Zufrieden stellt er fest:

Die USA, ihre NATO-Verbündeten und die Ukraine könnten dem russischen Eindringling schmerzhafte Kosten verursachen. Und für viele Jahre danach könnte Russland einer verstärkten NATO-Militärmacht gegenüberstehen.

Am 19. Dezember 2021 veröffentlicht die Washington Post einen Artikel, der zeigt, dass entsprechende Vorbereitungen bereits laufen:

Die Biden-Regierung untersucht, ob und wie die Vereinigten Staaten einen antirussischen Aufstand in der Ukraine unterstützen könnten, wenn Präsident Wladimir Putin in dieses Land einmarschiert und beträchtliches Territorium erobert.


Ein ehemaliger russischer Helikopter in Afghanistan.

Sollte die ukrainische Regierung fallen, würde das US Militär Waffen und logistische Hilfe schicken, um einen Guerilla-Krieg anzufachen. Der Autor zieht Parallelen zum Afghanistan-Krieg:

Zu den Waffen, die die Vereinigten Staaten bereitstellen könnten, gehören schultergefeuerte Flugabwehrraketen. Diese Waffen, damals als `Stingers´ bekannt, wurden von der CIA geliefert und hatten während des 10-jährigen Krieges in Afghanistan von 1979 bis 1989 verheerende Auswirkungen auf die sowjetischen Streitkräfte.

Doch nicht nur der Kalte Krieg helfe den USA dabei, eine kluge Strategie gegen Putins Russland zu entwickeln, sondern auch die Erfahrungen, die das US-Militär im so genannten Krieg gegen den Terror gesammelt hat, kämen zur Geltung.


Um die Freiheit der Ukraine zu sichern, gehen die USA äußerst subversiv vor

Wichtig sei, so der Autor, dass sich die USA an Recht und Ordnung hielten:

Die Task Force umfasst ein Rechtsteam, das untersucht, wie Unterstützung für einen ukrainischen Aufstand geleistet werden könnte, ohne gegen US-amerikanische oder internationale Gesetze zu verstoßen.

Die Biden-Administration nutzt die Washington Post als Medium, um ihre Pläne offen zu legen. Vladimir Putin sollte spätestens nach diesem Artikel wissen, was ihn im Falle einer Invasion erwartet:

US-Beamte haben davor gewarnt, dass Amerika und seine europäischen Verbündeten schwere Wirtschaftssanktionen verhängen würden, die die russische Wirtschaft lahmlegen könnten. Und die NATO kündigte letzte Woche Pläne an, Truppen in Richtung Russland zu verlegen, falls Putin Warnungen ignoriert. Das würde Russland nach einer Invasion anfälliger für den militärischen Druck des Westens machen, das Gegenteil von dem, was Putin zu erreichen hofft.

Am 13. Januar 2022 folgt Yahoo! News mit einem detaillierten Bericht, aus dem hervorgeht, dass die CIA seit 2015 ukrainische Spezialeinheiten in den USA ausgebildet hat, um sie auf einen Guerilla-Krieg vorzubereiten.


Die CIA bildet seit 2015 ukrainische Spezialkräfte aus, ihre Sprecherin sagt aber, das stimmt gar nicht.

Der Bericht zitiert einen anonymen Insider:

Die Vereinigten Staaten trainieren einen Aufstand, um Russen zu töten.

Ein anderer sagt:

Wenn die Russen einmarschieren, werden diese [Absolventen der CIA-Programme] die entscheidende Miliz sein, sie werden die Führung des Aufstandes übernehmen (..). Wir bilden diese Jungs jetzt seit acht Jahren aus. Sie sind wirklich gute Kämpfer. Hier könnte das Programm der CIA ernsthaft Wirkung zeigen.

Tammy Thorp, eine Sprecherin der CIA, verneint diese vermeintliche Verschwörungstheorie, doch Yahoo! News scheint das nicht zu stören und bringt den Artikel trotzdem.

Fünf Tage später stattet eine Gruppe von US-Senatoren Wolodimir Selenskij einen Solidaritätsbesuch ab. Senator Richard Blumenthal sagt:

Ich denke, Wladimir Putin hat den größten Fehler seiner Karriere begangen, indem er unterschätzt hat, wie mutig die Menschen in der Ukraine gegen ihn kämpfen werden, wenn er einmarschiert. (..) Wir werden lähmende Wirtschaftssanktionen verhängen, aber was noch wichtiger ist, wir werden den Menschen in der Ukraine die Waffen geben, tödliche Waffen, die sie brauchen, um ihr Leben und ihren Lebensunterhalt zu verteidigen.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace kündigt an, nicht nur Waffen zu schicken, sondern auch militärische Ausbilder.

Der Kreml ist sich bewusst, dass amerikanische und britische Strategen einen Guerillakrieg vorbereiten. Ein Sprecher Putins beklagt sich am 18. Januar über die Waffenlieferungen und sagt:

Das ist extrem gefährlich und hilft nicht, Spannungen abzubauen.

(Sputnik ist mittlerweile in Deutschland verboten, um zu verhindern, dass diese Art von Fake-News unters Volk kommt. Der Link tot.)

Trotzdem greift Russland die Ukraine am 24. Februar an.

Einen Tag später veröffentlicht das einflussreiche amerikanische Magazin Foreign Affairs das bislang ausführlichste Exposé über die Planungen der CIA.

Der Titel des Artikels lautet: „Der kommende ukrainische Aufstand: Die russische Invasion könnte Kräfte lostreten, die der Kreml nicht kontrollieren kann“.



Geschrieben ist er von Douglas London, der 34 Jahre für die CIA gearbeitet hat, als Experte für geheime Operationen. Er schreibt:

Die Ukrainer haben die letzten acht Jahre damit verbracht, den Widerstand gegen eine russische Besatzung zu planen, dafür zu trainieren und sich auszurüsten (..) Die Ukraine weiß, dass keine US- oder NATO-Truppen zu ihrer Rettung auf dem Schlachtfeld kommen werden. Ihre Strategie beruht nicht darauf, eine russische Invasion zurückzuschlagen, sondern darauf, Moskau auszubluten, um die Besetzung unhaltbar zu machen.

Die Geographie der Ukraine sei ein Vorteil, da sie an vier NATO-Staaten grenzt (Ungarn, Polen, Rumänien, Slowakei):

Diese langen Grenzen bieten den Vereinigten Staaten und der NATO eine dauerhafte Möglichkeit, den ukrainischen Widerstand und einen langfristigen Aufstand zu unterstützen und Unruhen in Belarus zu schüren, falls die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten beschließen, die Opposition gegen das Regime von Lukaschenko heimlich zu unterstützen.

Ähnlich wie die Washington Post einen Monat vorher verweist Douglas London auf Erfahrungen aus der Vergangenheit, die nahe legten, dass Russland auf verlorenem Posten sei:

Wie die Vereinigten Staaten in Vietnam und Afghanistan gelernt haben, kann sich ein Aufstand, der über zuverlässige Versorgungswege, reichlich Reserven an Kämpfern und Zufluchtswege über die Grenze verfügt, auf unbestimmte Zeit erhalten, den Kampfwillen einer Besatzungsarmee schwächen und die politische Unterstützung für die Besatzung in der Heimat erschöpfen.

„Ein Aufstand ist unvermeidlich“

Dann kommt er zur Rolle der CIA:

Die Unterstützung eines Aufstands liegt in der DNA der CIA (…) Die jüngsten Erfahrungen der CIA bei der Unterstützung und Bekämpfung von Aufständen in Afghanistan, Irak und Syrien bereiten sie gut darauf vor, sich den modernen, konventionellen Streitkräften Russlands entgegenzustellen. Die Vereinigten Staaten können ukrainischen Aufständischen dabei helfen, Ziele mit dem größten militärischen Wert und der größten psychologischen Wirkung zu treffen.

Er vermutet, dass die CIA schon länger dabei ist, die Ukraine auf diesen Krieg vorzubereiten, zusammem mit ihren Geheimdienstkollegen aus Kiew.

Douglas London ist sich im klaren, dass russische Geheimdienste die Aufständischen bereits unterwandert haben und ihnen anfangs schwere Verluste beibringen könnten. Doch die Zeit spiele gegen die Russen:

Aufständische passen sich schnell an, viel schneller als die großen, strukturierten Armeen, gegen die sie kämpfen (..). Ihre Agilität wird zu einem enormen Vorteil.

Tatsächlich rechnet er damit, dass der Guerillakrieg sich nur langsam entwickeln werde:

Ein Aufstand gegen russische Streitkräfte in der Ukraine wird einige Zeit brauchen, um Fahrt aufzunehmen und seine Ziele zu erreichen. Widerstandsbewegungen können Jahre – nicht Monate – brauchen, um zu reifen, sich zu organisieren und ein offensives Tempo zu erreichen.

Abschließend stellt er fest:

Wenn seine (Putins) Ziele maximalistisch sind – Grenzen neu ziehen oder sogar die derzeitige Regierung stürzen – ist ein Aufstand unvermeidlich. Sowohl für Putin als auch für seine Feinde wird es schwer, die jetzt entfesselten Kräfte zu kontrollieren.


Kriegsbilder können die Öffentlichkeit schockieren, wenn sie gezielt eingesetzt werden.

Wenn es stimmt, was Douglas London schreibt, dann spielt die CIA auf Zeit. Ein schneller Erfolg ist bei einem Guerillakieg jedenfalls nicht zu erwarten, vielmehr handelt es sich um eine Abnutzungsschlacht, in der es darum geht, die Moral und die Ressourcen des Feindes langsam zu zermürben.

Die schrecklichen Bilder, die solch ein Krieg produziert, müssen dabei als Waffe gegen den Feind eingesetzt werden:

Eine Einflusskampagne, ausgestattet mit schrecklichen Bildern des Gemetzels – sowohl von ukrainischen Zivilisten wie russischen Soldaten – wird darauf abzielen, in Russland Antikriegsstimmung zu säen.

Tatsächlich berichtet CBS News ein paar Tage später, dass amerikanische und britische Strategen in Jahren denken, wenn nicht Jahrzehnten:

Angesichts der Beständigkeit des ukrainischen Widerstands und seiner langen Geschichte, Russland zurückzudrängen, glauben die USA und die westlichen Mächte nicht, dass dies ein kurzer Krieg sein wird (..) Die britische Außenministerin schätzt, dass der Krieg zehn Jahre dauern wird. Abgeordnete im Kapitol wurden am Montag darüber informiert, dass er wahrscheinlich 10, 15 oder 20 Jahre dauern wird und dass Russland letztlich verlieren wird.

Unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion lässt sich auf Twitter ein interessantes Phänomen beobachten: Amerikanische und britische Ex-Militärs geben konkrete Anweisungen für ukrainische Zivilisten, wie sie ihre Städte in geeignetes Terrain für urbane Kriegsführung unwandeln können.



Einer von ihnen ist John Spencer, Chair of Urban Warfare Studies am Madison Policy Forum, ein Major im Ruhestand:

Ich bin gefragt worden, was ich den zivilen Widerstandskämpfern in der Ukraine, insbesondere in Kiew, raten würde, also Leuten ohne militärische Ausbildung, die Widerstand leisten wollen. Hier sind ein paar Dinge: Du hast viele Möglichkeiten, aber du musst klug kämpfen. Die Stadtverteidigung ist die Hölle für jeden Soldaten. Normalerweise kommen 5 Angreifer auf 1 Verteidiger (..). Verwandele Kiew und jedes städtische Gebiet, das nach Kiew führt, in ein Stachelschwein.


Sieht schon ganz gut aus.

Dann erklärt er, wie der Widerstand die Infrastruktur der Stadt – also etwa Brücken – zerstören und die Häuser in Widerstandsnester verwandeln solle:

Steht nicht NICHT im Freien (..). Schießt aus Fenstern, hinter Autos, aus den Ecken von Gassen. Baut Stellungen (am besten aus Beton), um von dort aus zu schießen.

Irgendwann könnte es ruppig werden, so Spencer:

Du musst dich darauf vorbereiten, dass die Russen Artillerie einsetzen werden, um ihren Truppen zu helfen. Stelle sicher, dass die Orte, von denen du schießt, gut ausgebaut sind. Wenn du dich in einem Gebäude befindest, mache Löcher in die Wände.

Abgesehen von den Twitter-Instrukteuren befinden sich laut Berichten von Buzzfeed bereits Veteranen aus NATO-Spezialeinheiten auf dem Weg in die Ukraine, um den Aufständischen zu helfen und andere Freiwillige zur Anreise zu animieren:

Eine Gruppe von 10 Veteranen aus Spezialeinheiten hält sich in Polen auf und bereitet sich darauf vor, in die Ukraine einzudringen.

Es handele sich um sechs US-Amerikaner, drei Briten und einen Deutschen (der dann aus dem Kommando Spezialkräfte (KSK) stammen müsste):

Sie wollen zu den Ersten gehören, die offiziell der neuen Internationalen Legion der Territorialverteidigung der Ukraine beitreten, die Selenskyj am Sonntag angekündigt hat.


Sie sieht nicht mehr so frisch aus wie früher, aber ist kampfeslustig wie eh und je.

Als erste hochrangige Politikerin, die dem „Afghanistan“-Plan ihren Segen gibt, meldet sich Hillary Clinton zu Wort. Auf MSNBC sagt sie am 1. März:

Die Bereitstellung der notwendigen Waffen hat begonnen und muss beschleunigt werden. Die Ukrainer brauchen Stinger-Raketen, um russische Flugzeuge abzuschießen, sie brauchen Javelin-Raketen, um Panzer zu stoppen, sie brauchen viel Munition, sie brauchen so viel Unterstützung wie möglich.

Dann erinnert sie an das Beispiel Afghanistan, das den Ukrainer:innen Hoffnung machen sollte:

Denken Sie daran, dass die Russen 1980 in Afghanistan einmarschierten, und obwohl kein Land hineinging, gab es viele Länder, die Waffen und Berater für diejenigen lieferten, die für den Kampf gegen Russland rekrutiert wurden. Es endete nicht gut für die Russen, es gab andere unbeabsichtigte Folgen, wie wir wissen, aber Tatsache ist, dass ein sehr motivierter und gut finanzierter und bewaffneter Aufstand die Russen im Wesentlichen aus Afghanistan vertrieben hat.

Natürlich gebe es Unterschiede, so die ehemalige Außenministerin, aber letztlich gehe es um das gleiche Prinzip:

Natürlich sollte man die Ähnlichkeiten nicht überbetonen, weil das Terrain so unterschiedlich ist, aber ich denke, das ist das Modell, auf das die Leute jetzt schauen. (..) Ich denke, wir müssen das genau beobachten, wir müssen ausreichend militärische Ausrüstung für das ukrainische Militär und die Freiwilligen bereitstellen und wir müssen die Schrauben weiter anziehen.

Amerika wäre nicht Amerika, wenn es nicht auch kritische Stimmen gäbe.

Das linke Magazin Covert Action Quarterly, das seit Jahrzehnten über verdeckte Kriegsführung berichtet, erinnert am selben Tag, als Hillary Clinton ihr Interview gibt, an den legendären amerikanischen Strategen Zbigniew Brzezinski.


Zbigniew Brzezinski schaffte es bis ganz nach oben, obwohl sein Name fast nur aus Konsonanten besteht.

Er ist der Vater der „Afghanistan“-Strategie: Im Sommer 1979, sechs Monate vor dem sowjetischen Einmarsch, ließ er die Mudschahedin bewaffnen, um die Sowjets in die Falle zu locken und dann über Jahre hinweg militärisch ausbluten zu lassen.

Die Tatsache, dass anschließend die Taliban die Macht übernahmen, kommentierte er 1998 wie folgt:

Was ist wichtiger für die Geschichte der Welt? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Einige aufgeregte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?

Das Covert Action Magazine befürchtet, dass wir an einem ähnlichen Punkt in der Geschichte angelangt sind:

Brzezinski starb im Mai 2017, aber sein Geist lebt in der Biden-Regierung weiter, die seiner Blaupause gefolgt zu sein scheint und Afghanistan durch die Ukraine ersetzt hat. Ihre Strategie scheint darin bestanden zu haben, eine russische Invasion in der Ukraine herbeizuführen, mit dem Ziel, Russland in einen Sumpf zu locken und gleichzeitig seine Wirtschaft durch Sanktionen zu lähmen, was die Aussicht auf einen Sturz von Wladimir Putin erhöht.

Vollkommen neu ist, dass sich die Bundeswehr offiziell an einer solchen Mission beteiligt. Bereits am 26. Februar kündigt Bundeskanzler Scholz an, 1000 Panzerfäuste und 500 Stinger-Raketen in die Ukraine zu schicken.



Ein ganz neues Gefühl ist es auch, dass Militärs im deutschen Fernsehen auftauchen und Kriegstaktiken erklären, wie der FOCUS anmerkt:

Man hat es bis vor ein paar Tagen nicht für möglich gehalten, dass ein Experte für Militärstrategie mal ein wichtiger Gesprächspartner in einem TV-Talk über Europa werden könnte. Nun sitzt der ehemalige deutsche Nato-General Hans-Lothar Domröse bei Frank Plasberg und darf gleich zum Auftakt des Abend ran.



General Domröse wird in der Sendung erstaunlich deutlich, das Wort „Partisan“ dürften viele Deutsche zum ersten mal in einer Talkshow gehört haben:

Das kann ein Afghanistan 2.0 für Putin werden (..) Die Ukraine muss partisanenartig kämpfen. Das ist die einzige Chance, um den Russen den Angriffsschwung zu nehmen.

Bald werde die Bevölkerung aus Kellern und Straßenschluchten auf Panzer schießen, zitiert FOCUS den General, dessen Auftreten dem Magazin Respekt abverlangt:

Wenn der General mit dem dicken grauen Schnäuzer spricht, schwingen keine Emotionen mit. Nüchtern erklärt Domröse die Welt des Krieges.

Die Waffenlieferung aus Deutschland, so Domröse, würde die Moral der ukrainischen Truppe und die Partnerschaft mit Deutschland stärken.

Eine Guerilla-Krieg mit deutschen Panzerfäusten

Im Morgenmagazin der ARD wird André Wüstner, Vorsitzender des Bundeswehrverbands, gefragt, ob es zu einem Guerilla-Krieg kommen könnte. Seine Antwort:

Ja, davon gehe ich schon aus, denn in den Städten selbst, im Orts- und Häuserkampf, da sind natürlich Kräfte, wie sie die Ukraine hat, mit ihren Panzerfäusten und mehr überlegen, aber auf der anderen Seite könnte das Putin motivieren, mit Feuerwalzen über diese Städte herzufallen, vergleichbar Grozny, Aleppo, und deswegen besorgt mich die aktuelle Situation natürlich auch.

Der Moderator fragt, ob es angesichts dessen richtig war, Panzerfäuste in die Ukraine zu schicken:

Ich denke, die Entscheidung war richtig und sie sind ja auf dem Weg gerade an die Front (..) und das gleiche machen ja unsere Partner.


Ein Pressesprecher des Partisanenkriegs.

Noch sind die deutschen Lieferungen zaghaft, aber das dürfte sich ändern, je mehr sich die Bundeswehr daran gewöhnt hat, eine kämpfende Armee zu sein. Auch für die Deutschen ist es ein vollkommen neues Gefühl, plötzlich von einem „Kriegskanzler“ regiert zu werden.

Dabei beschränkt sich der Abnutzungskrieg gegen Russland nicht nur auf „geopolitische Maßnahmen“, sondern wird von harten wirtschaftlichen Sanktionen flankiert – ganz wie es die RAND Corporation in ihrem Bericht vom April 2019 anvisiert hatte.


Russland ist anscheinend gar keine Bedrohung für den Westen, es hat nicht genug Kohle (also Geld).

Die wirtschaftliche und finanzielle Isolierung seines Landes soll Vladimir Putin zum Einlenken bringen – sofern er bereit ist, den Ernst der Lage zu erkennen. Emily Haber, die deutsche Botschafterin in Washington, schreibt dazu auf Twitter:

Die Sanktionen des Westens werden Russland in den Ruin treiben.

Doch auch die Ukraine wird leiden, daran führt kein Weg vorbei. Immerhin winkt die vollständige Eingliederung in westliche Strukturen, wenn alles überstanden ist.

Kori Schake, eine einflussreiche Verteidigungsexpertin vom American Enterprise Institute in Washington, schreibt dazu:

Die Eroberung der Ukraine wird unaussprechliche Brutalität erfordern, und selbst wenn Moskau erfolgreich sein sollte, strömen bereits fremde Legionäre in die Ukraine, um den Aufständischen dabei zu helfen, die russische Besatzung auszubluten. Wenn die Ukraine den Angriff Russlands abwehrt, wird sie in die NATO und die EU aufgenommen.

Sollte der hier beschriebene amerikanische Plan tatsächlich der NATO-Strategie entsprechen, befinden wir uns erst am Anfang eines langen Guerillakrieges.



Um das zu verhindern, sollte Vladimir Putin – sofern ihm das Schicksal Russlands, aber auch das der Ukraine, am Herzen liegt – seine Truppen so schnell wie möglich wieder abziehen.

Denn die Vorbereitungen für diesen Krieg laufen auf Hochtouren, niemand wird ihn stoppen können.

Das Modern War Institute in West Point redet deswegen den westlichen Strategen, die all das seit langem planen, ins Gewissen:

Selbst wenn dies zu einer russischen Niederlage führen sollte, sollten sich die Ukrainer – und die westlichen Politiker, die sie unterstützen – nicht darüber täuschen, wie schrecklich ein aufständischer Krieg sein wird.

***

„Die Sendung verschwindet im Giftschrank“

Warum der NDR mein Feature absägte und ich explodierte Ein ganz persönlicher Bericht

UPDATE, 29. September 2022:

Die folgende Geschichte, geschrieben im Oktober 2021, hatte ich schon abgehakt, ich wollte sie hinter mir lassen und zu neuen Ufern schwimmen.

Seit Monaten war mein Blog offline und der Relaunch für Januar 2023 geplant, die alten Beiträge waren deaktiviert – auch dieser.

Doch die jüngsten Ereignisse um den NDR – vor allem die mögliche Einflussnahme auf die politische Berichterstattung – lösten ein Déja-vu bei mir aus und stimmten mich um.



Den letzten Anstoß gab die aktuelle Ausgabe der Nordspitze, ein Magazin der norddeutschen Landesverbände des DJV, das gestern in meinem Postfach landete.

Titelthema: Der NDR „im Krisenmodus“.

Die Redakteure schickten dem Intendanten des Senders folgende Fragen:

Das Ergebnis:

Da sich Joachim Knuth auch in meinem Fall nicht mit Ruhm bekleckert hatte, ist die Zeit gekommen, meine Geschichte wieder öffentlich zu machen.

Sie steht – meiner Ansicht nach – beispielhaft dafür, wie der NDR mit Redakteuren und Autoren umgeht, die sich an Themen heranwagen, die nicht alltäglich sind.

Das Stunden-Feature, um das es geht, wurde drei Tage vor Ausstrahlung von NDR Info online gestellt und konnte heruntergeladen werden.

Die Ursendung war seit Monaten für Sonntag, den 13. Dezember 2020 um 11.05 Uhr angekündigt, die Süddeutsche Zeitung erwähnte das Stück in ihrer Rubrik „Die besten Hörspiele und Features“ an erster Stelle:

Süddeutsche Zeitung, 11. Dezember 2022.

Am Samstag Abend, den 12. Dezember 2020, setzte der NDR das Feature ab und nahm das Audio von seiner Webseite, ohne mich vorher zu kontaktieren.

Warum ich das einen Skandal finde, habe ich später in gewissenhafter Ausführlichkeit und mit zahlreichen Belegen aufgeschrieben.

Außerdem ging ich der Frage nach, was der Grund für die Absetzung gewesen sein könnte.

Es handelt sich um einen so genannten long read, ein Genre, das sich im digitalen Zeitalter entwickelt hat und von der Leserin etwas Zeit und Neugier verlangt.

Hier ist also der Text vom Oktober 2021, aktualisiert, redigiert und passagenweise neu geschrieben.

29. September 2022

*****

Als ich im Dezember 2020 den NDR mit allem beschoss, was ich an sozialer Medienkompetenz aufbringen konnte, kratzten sich meine Freunde am Kopf und sagten:

„All das wegen einer abgesetzten Radiosendung?“

Aber es war nicht das erste Mal, dass kurz vor Zieleinlauf ein für mich wichtiges Werk aus möglicherweise politischen Gründen den Weg in den Mülleimer fand.

So im Herbst 2013, als eine aufwändig recherchierte Reportage über die Lampedusa-Flüchtlinge in St. Pauli fertig produziert in der stern-Redaktion lag und für die kommende Woche vorgesehen war.


In der St. Pauli Kirche. Maria Feck (Fotos) und ich begleiteten die Menschen aus Ghana und Mali über Monate.

Dann sagte der Chefredakteur: „Njet.“

Es seien zu viele Flüchtlingsgeschichten in Planung – von denen aber nie eine kam.

Der NDR-Fall wog jedoch schwerer, er stellte eine Zäsur für mich dar. Mein Vertrauen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist seitdem gestört.

Gleichzeitig handelt es sich um ein interessantes Beispiel, wie deutsche Medien mit schwierigen Themen umgehen und wie es ihnen – in meinem Fall mehr schlecht als recht – gelingt, sie im Nichts verschwinden zu lassen.

Die Erfahrung war schmerzlich, zumal sie eng mit meiner Heimatstadt Hamburg verbunden ist, in der ich geboren wurde, aufwuchs, studierte, arbeitete, Erfolge feierte und schließlich scheiterte.

Ich liebe Hamburg trotzdem!


In dem Haus rechts habe ich Arabisch gelernt und den Koran gelesen. Später stand es zum Verkauf, mir fehlte aber das Kleingeld.

Ausnehmend schön ist die Rothenbaumchaussee, wo die NDR-Radiostudios liegen und früher das Orientalische Seminar beheimatet war, an dem ich studierte.

Eine Straße der Erinnerungen.

Nun denn: Diese Geschichte wird spannend, das kann ich versprechen, sie ist ein Lehrstück in Sachen Meinungsvielfalt (und deren Grenzen) in der Bundesrepublik Deutschland.

Fangen wir ganz vorne an.

Es war einmal ein Mann…

Alles begann im Jahre 2019 n. Chr.

Ein Mann – nämlich ich – saß am Schreibtisch und sortierte die Interviews, die er in den vergangenen Jahrzehnten mit diversen Islamisten und ihren Kritikern geführt hatte. Er brauchte Kohle und wollte diesen Schatz vergolden.

Tatsächlich hatte ich seit langem die Idee, mein altes O-Tonmaterial in einem Radiofeature neu zu betrachten.

Manche der Gespräche haben historischen Wert:

Nicht wenige der Befragten sind in der Zwischenzeit durch Drohnen und andere Tötungsgeräte ermordet worden oder eine Krankheit beendete frühzeitig ihr Leben; weitere Interviewpartner sind für immer hinter Schloss und Riegel und werden so schnell kein Mikrofon mehr sehen.

Das Leben als Islamist ist kein Zuckerschlecken und ihre Kritiker müssen auch auf der Hut sein.

Abgesehen von den wertvollen Aufnahmen hatte ich in den vergangenen Jahren angefangen, den Islamismus und seine Hintergründe mit anderen Augen zu betrachten.

Mich trieb also nicht nur Geldnot an, sondern auch die Gewissheit, manches durchschaut zu haben. Das wollte ich den Bundesbürgern übers Radio mitteilen.


Dschihadisten wie Omar Bakri schleusten seit 2011 Kämpfer nach Syrien ein.

Während ich nämlich früher glaubte, der Westen betrachte Leute vom Schlage al-Qaidas als seine Feinde, so muss ich heute sagen, dass es jenseits der Meere Geheimdienste gibt, die ganz gerne mit diesen Typen kooperieren.

Die Geopolitik treibt´s rein.

Ein Beispiel ist der so genannte „Tottenham Ayatollah“, den ich im Dezember 2000 in London traf und einen lustigen Kerl fand. Sein wirklicher Name ist Omar Bakri Mohammed, seine inzwischen verbotene Organisation nannte sich al-Muhajiroun.

Irgendwann wurde mir klar: Der ist gar nicht so witzig ist und die jungen Männer, die er zu Dschihadisten abgerichtet hatte, landeten im Kosovo und anderen Konfliktzonen.

Er selbst bezeichnete seine Kommunikationsorgane als „Mund, Augen und Ohren“ Osama bin Ladens.

Mit anderen Worten: Er war ein Sprecher al-Qaidas in London.

Damit nicht genug: In all diesen Jahren war der Ayatollah aus Tottenham offensichtlich ein Informant britischer Geheimdienste (und keinesfalls der einzige aus dem Milieu).

Zwei Tage nach den katastrophalen Anschlägen von Washington und New York (September 2001) rief ich ihn an und fragte ihn nach seiner Meinung. Er sagte, ab nun sei niemand mehr im Westen sicher, überall könnten Anschläge stattfinden – im Zug oder in der U-Bahn.

Im April 2004 wiederholte er diese fast prophetischen Worte: Die englische Hauptstadt sei bald dran, warnte er.


Ein Transkript des Interviews mit John Loftus auf FOX News findet sich hier.

John Loftus, ein früherer Ermittler im US-Justizministerium, behauptete am 29. Juli 2005 auf FOX News, der mutmaßliche Anführer der U-Bahnanschläge von London am 7. Tag desselben Monats sei ein Mitglied von al-Muhajiroun und werde vom MI6 gedeckt:

„He´s a double agent.“

Na sowas.

Erwähnenswert ist zudem, dass Omar Bakri im Januar 2012 als erster verkündete, al-Qaida werde nun in Syrien mit Selbstmordattacken beginnen (was dann auch geschah).

Zu diesem Zeitpunkt lebte er bereits im libanesischen Exil. Ob die Kontakte zu britischen Geheimdiensten deswegen abgebrochen sind, scheint mir fraglich – zumal er seinem Nachfolger in London weiter Ratschläge erteilte.

Die Polizei kann nicht gründlich ermitteln

Diesen Nachfolger – sein Name ist Anjem Choudary – interviewte ich im Sommer 2012.

Ich wollte ihn mit einer Statistik in die Enge treiben, die seine Organisation als gewaltbereit erscheinen ließ. Aber das kratzte ihn gar nicht.

Hier die entscheidende Passage in meiner Radiosendung für den Deutschlandfunk:

Im September 2016 wurde Anjem Choudary zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er Kämpfer für den ISIS rekrutiert hatte. Die Polizei geht davon aus, dass er mit 500 bis 850 britischen Syrienfahrern in Kontakt stand.

Ein Ermittler, der ihn oft im Visier hatte, aber stets vom Inlandsgeheimdienst MI5 zurückgepfiffen wurde, sagte dem Daily Telegraph voller Empörung:


Einen ersten Versuch, das etwas sensible Thema Terroristen und ihre „westlichen Busenfreunde“ einem deutschen Publikum näher zu bringen, unternahm ich 2015 in der kleinen, aber feinen Zeitschrift Welt-Sichten.

Jetzt sollte die große Nummer folgen.



Im November 2019 schickte ich dem NDR – für den ich seit 2002 regelmäßig gearbeitet hatte – ein Exposé, in dem ich vorschlug, in diesen Sumpf einzutauchen.

Zu meiner Freude (und Überraschung) stimmte der Sender zu.

Mein Freund Benno Köpfer, ein Islamwissenschaftler und Verfassungsschützer der frühen Stunde, erklärte sich bereit, bei laufendem Mikrofon mit mir über die gemeinsame Vergangenheit zu reden.

Er war dabei, als ich 1991 im Jemen das erste Mal einem Muslimbruder die Hand schüttelte.


Bevor ich den ersten richtigen Extremisten traf, trainierte ich mir jahrelang Mut an (Kairo, Sommer 1991).

Für den weiteren Verlauf der Geschichte ist folgendes wichtig zu wissen: Mein Exposé konzentrierte sich auf Syrien – was unschwer nachzulesen ist – , alles was später dazu kam, entwickelte sich aus dem Dialog mit den Redakteuren.

Über Jahre hatte ich Material zum Krieg in Syrien gesammelt, aus dem zweifelsfrei hervorgeht, dass die USA genau wussten, was sie taten, als sie internationalen Dschihadisten im Laufe des Jahres 2012 alle Möglichkeiten gaben, diesen Schauplatz zu ihrem „neuen“ Afghanistan zu machen.

Die beiden Redakteure, mit denen ich in Hamburg über den Aufbau der Geschichte verhandelte, wünschten sich darüber hinaus einen Bezug zu Deutschland.

Sie selbst kamen auf die Idee, den Anschlag vom Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 zusätzlich zum Thema zu machen.

Das überraschte mich, denn es ist ein sehr sensibler Stoff – zumindest, wenn man ihn unter dem Aspekt „Islamisten als Partner westlicher Geheimdienste“ betrachtet. Und das war schließlich das Anliegen meines Features.

Trotzdem stimmte ich zu, ich fand es sogar äußerst spannend!


Der Brief des NDR Hamburg, den ich meinen Interviewanfragen an Behörden beilegte, die mit dem Fall Amri zu tun hatten.

Es gibt genügend Gründe, alles kritisch zu hinterfragen, was über diesen undurchsichtigen Terroranschlag an die Öffentlichkeit gelangt ist – auch und gerade die Rolle (internationaler) Geheimdienste betreffend.

Ich bin mir aber nicht sicher, ob sich die Redakteure der Brisanz wirklich bewusst waren.

Der in diesen Dingen weniger Erfahrene von beiden jedenfalls fand es vollkommen normal, dass man als Journalist versucht, Licht ins Dunkel solcher Dinge zu bringen.

Zwischen Kartoffelsalat und Cola in der Kantine an der Rothenbaumchausse meldete ich leise Zweifel an, aber er blieb unverdrossen…

Also machte ich mich an die Arbeit und trug im Laufe der nächsten Wochen interessantes Material zusammen. So bekam ich die Möglichkeit, Einblick in Dokumente aus den Amri-Untersuchungsausschüssen zu nehmen, die eigentlich unter Verschluss sind.



Bei einem Dreiertreffen in Hamburg begutachteten wir den Stoff. Joachim Dicks, der das Projekt im Sommer 2020 federführend übernahm, äußerte zumindest dem Anschein nach keine Bedenken.

Zu ihm möchte ich nun ein paar Worte sagen.

Mein verstörendes Verhalten…

Zunächst eine Anmerkung: Es ist nicht alltäglich, die Hintergründe journalistischer Recherchen offenzulegen und dann auch noch Namen zu nennen.

Diese Dinge sind vertraulich, wie soll man sich sonst auf eine Zusammenarbeit mit einem Autor einlassen?

Allerdings ist das hier ein Sonderfall: Wie wir sehen werden, hat sich der NDR mir gegenüber nicht nur unkollegial verhalten, sondern er hat mir ausdrücklich geschadet.

Auf diese Politik reagierte ich mit einem sehr ungewöhnlichen – und ich gebe offen zu: teilweise verstörenden – Verhalten, das erklärungsbedürftig ist.


Ich habe gerne mit ihm zusammengearbeitet, dann attackierte ich ihn schwer. Später tat es mir leid.

Dazu musss ich aber Ross und Reiter nennen, denn bliebe alles anonym, wäre die Erzählung schwer zu vermitteln.

Der NDR wird mich eh nicht mehr engagieren, das ist so sicher wie der Novemberregen in Hamburg, und es lässt sich (leider) nicht mehr ändern.

Also: Kommen wir zu Joachim Dicks.

Ich erlebte ihn als sensiblen und klugen Menschen, der gleichwohl passiv aggressives Verhalten an den Tag legen konnte.

Wie mir erst im Nachhinein klar wurde, war er nicht nur ein erfahrener, sondern ein offensichtlich bundesweit anerkannter Feature-Redakteur. Das lässt sich zum Beispiel daran ablesen, dass er alleine drei der renommierten ARD-Radiofeatures betreute.

Ich hatte es also nicht mit einem heurigen Hasen zu tun. Ein Kollege von mir, der ihn kennt, sagte, Joachim Dicks könne sehr gut abschätzen, was man im öffentlich-rechtlichen Radio senden könne und was nicht.

Ungeachtet dessen hatte ich während der späteren Produktionsphase das Gefühl, dass Joachim Dicks nicht immer ganz wohl war bei dem Gedanken, als Redakteur für dieses Feature über Terrorismus und Geheimdienste am Ende gerade stehen zu müssen.

Ein Tiefschlag am Nachmittag

Zwischendurch ging er recht offen mit seinen Bedenken um, was mir gefiel. Zum Schluss aber wurden mir seine Versuche, den Inhalt zu entschärfen, zu viel. Ich musste mich gelegentlich am Riemen reißen, um nicht unwirsch zu werden.

Doch der Reihe nach.

In den ersten Monaten des Jahres 2020 führte ich diverse Interviews in Berlin, Bielefeld, Hannover, Düsseldorf, Köln, Stuttgart und Zürich. Die Sache war einigermaßen aufwändig.

Außerdem sortierte ich mein Material, das ich zum Dschihad in Syrien und Libyen gesammelt hatte. Daraus schmiedete ich ein Manuskript, das ich im August an Joachim Dicks schickte, mit folgendem Titel:


Wer Zeit und Lust hat, kann sich das Manuskript durchlesen, das alternative Magazin Free23 hat es später abgedruckt.

(Hier eine einseitig negative Darstellung des Magazins. Ich schlage vor, dass sich jede Leserin ein eigenes Bild macht. Mir gefällt die Politik von Free23 nicht immer, aber die Ausgabe, in der ich vorkam, lohnt sich allemal. Empfehlen möchte ich ausdrücklich den Artikel des norwegischen Friedensforschers Ola Tunander.)

UPDATE, 5. Oktober 2022: Jemand hat mich zurecht ermahnt, dass das Magazin Free21 heißt, nicht Free23. Ich bitte den Lapsus zu entschuldigen.

***

Ich war mächtig stolz auf das Produkt, hörte aber lange Zeit nichts vom NDR. Deswegen fuhr ich nach Hannover, um die Sache persönlich zu besprechen.

Es war ein sonnendurchfluteter Septembernachmittag, wir saßen im Garten des NDR-Geländes am Rande des Maschsees und Joachim Dicks verlor kein gutes Wort über mein Manuskript.

Das war ein echter Tiefschlag, auf den ich nicht vorbereitet war.


Unweit des Maschsees seifte mich Joachim Dicks ein. Anders gesagt: Ich ging baden.

Aber die Punkte, die er vortrug waren nachvollziehbar, sie betrafen Inhalt wie Stil.

Er sagte, ihm sei es wichtig, dass die Quellen für sich selbst sprächen, ich würde zu viel kommentierend eingreifen. Die Zuhörer müssten die Chance bekommen, sich ein eigenes Urteil zu bilden.

Das leuchtete mir ein.

Außerdem war ihm der Text zu hart. Er bat mich um „Verwässerung“, es sei besser, bei solch kontroversen Themen in „homöopathischen“ Dosen vorzugehen, statt die Zuhörer mit dem Holzhammer zu erschlagen.

Auch das konnte ich verstehen. Es war ungewöhnlich genug, dass der NDR dieses Thema aufgriff.

Der NDR will sich absichern

Ferner bat er mich darum, über das Phänomen „Verschwörungstheorie“ zu reden, ich sollte bei Fachleuten nachfragen, wie sie meine Quellen einordneten.

Er schlug Michael Butter vor, Professor für amerikanische Literatur in Tübingen, darüber hinaus ein anerkannter Verschwörungstheorien-Kenner sowie Experte für „echte“ Verschwörungen:

Echte Verschwörungen aufzudecken ist äußerst schwierig, weil fast immer Geheimdienste involviert sind, deren Spezialität es ist, ihre Spuren zu verwischen (bei der CIA nennt sich das „plausible deniability“.)

Vom Stil her war Joachim Dicks das Manuskript zu wissenschaftlich und zu wenig künstlerisch, ihn störten die vielen Zeitungstexte, die ich zitierte, statt Musik, Atmosphäre und O-Töne sprechen zu lassen.

Einem erfahrenen Feature-Redakteur konnte ich in dieser Sache kaum widersprechen, also unterließ ich es.

Zum Schluss forderte Joachim Dicks vollkommen zurecht eine weitere Sache ein: Er sagte, es sei abgemacht gewesen, dass ich stärker in den Dialog mit Benno Köpfer gehen sollte, meinem Freund vom Verfassungsschutz in Stuttgart.

Dieser Dialog sollte atmosphärisch und akustisch untermauert sein, zum Beispiel dadurch, dass wir uns gemeinsam Clips aus dem Nahen Osten anschauten und darüber reden würden, während im Hintergrund der Sound läuft.

Tatsächlich hatten wir das abgemacht, mir war es aber nicht gelungen, das entsprechend in Szene zu setzen.


In diesem Buch lässt Benno die Katze aus dem Sack. Lest es Euch durch!

Wichtiger noch: Ich sollte Benno Köpfer stärker dazu bringen, sich inhaltlich zu äußern, er sollte die Thesen, die ich aufstellte, ausdrücklicher einordnen und möglicherweise bestätigen.

Die Idee dahinter war klar: Wenn der NDR einen Autor darüber sinnieren lässt, ob westliche Geheimdienste mit Terroristen kooperieren, muss er sich von dritter Seite absichern. Benno Köpfer sollte diese Funktion übernehmen.

Das ist verständlich.

„Abgeschottet und öffentlichkeitsscheu“

Aber ich sagte von vornherein, dass Benno Köpfer meiner These niemals zustimmen könnte, selbst wenn er sie für plausibel hielte (wovon ich nicht ausgehe). Dafür ist die Bundesrepublik viel zu abhängig genau von jenen Geheimdiensten, die Thema meines Features sein sollten (CIA, MI6 etc.).

Ich fragte trotzdem bei Benno nach und er zeigte sich bereit, ein zweites Mal mit mir zu reden.

Wenn man bedenkt, dass die ZEIT die deutschen „Inlandsgeheimdienste“ als „öffentlichkeitsscheu“ bezeichnet und ihnen eine „abgeschottete Arbeitsweise“ attestiert, ist das nicht selbstverständlich.

Ich machte mich also erneut auf die Socken, ich fuhr nach Stuttgart, Tübingen, Freiburg und wieder nach Berlin.


Weiter, weiter, immer weiter!

Erwähnen möchte ich, dass ich diese zusätzlichen Recherchen aus der eigenen Tasche bezahlte, ganz abgesehen von dem enormen Zeitaufwand. Der NDR sieht für solche Features ein Reisehonorar von 200 Euro vor, was in meinem Fall auf 300 Euro erhöht wurde.

Was ich damit sagen will: Ein Feature ist nicht in erster Linie ein ökonomisches Unterfangen, es geht den Autoren oft um die Sache, sie stecken viel Herzblut rein.

Warum mir später der Kragen platzte

Eine Feature-Redakteurin eines anderen ARD-Senders sagte ganz offen zu mir, dass die Arbeit an solchen Sendungen einer Art „Selbstausbeutung“ gleichkommt (was sie selber nicht gut fand).

Als Gegenleistung erhält man ein sauber produziertes Radiostück, das im Idealfall ein kleines Kunstwerk ist und an dem man sich für lange Zeit erfreuen kann. Es ist zudem eine sehr gute Referenz – für einen freien Autor eine nicht zu unterschätzende Ressource.

Ich betone das deshalb, weil mir der Kragen so richtig platzte, als der NDR mein Feature nonchalant absetzte, ohne mich vorher zu informieren.

Ich fühlte mich schlichtweg verarscht, wenn ich das so deutlich sagen darf…

Aber ich greife vor. Bleiben wir zunächst bei der Recherche.

Weil ich mich bei dem Thema Verschwörungstheorie nicht allein auf Michael Butter verlassen wollte, suchte ich in meiner Bibliothek nach entsprechender Literatur.

Ich entdeckte dieses Buch, das ich vor Jahren durchgeblättert hatte:

Eines der wenigen wissenschaftlich fundierten Werke zum Thema Verschwörungstheorie.

Alleine die Kapitelüberschriften bringen den Kopf zum Rauchen:


Andreas Anton, einer der Autoren, ist aber ein sehr umgänglicher Typ, der am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) in Freiburg arbeitet.

Bei Wikipedia steht:

Die Aufgaben des IGPP liegen in der interdisziplinären Erforschung von Phänomenen wie außersinnlicher Wahrnehmung, Veränderung von Bewusstseinszuständen, Psychokinese u. a.

Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (Wikipedia)

Das ist genau mein Ding!

Zwischen 2009 und 2010 landete ich nämlich zwei mal in der Psychiatrie, zuerst hieß die Diagnose bipolare Störung, dann paranoide Schizophrenie (die Ärzte konnten mein Verhalten nicht wirklich einordnen).

Das klingt natürlich wahnsinnig wahnsinnig, für mich waren es aber lehrreiche Erfahrungen, die beim zweiten Mal direkt mit einer Recherche im Islamistenmilieu zu tun hatten.

„Es ist sehr interessant, was Sie da schildern“

Ich ging aus dieser Krise gestärkt hervor und bin resilient geworden gegen paranoides Denken, was äußerst hilfreich ist, wenn man sich intensiv mit Geheimdiensten beschäftigt.

Also beschloss ich, die Sache im Gespräch mit Andreas Anton aufzubringen.

Der war ganz angetan, ein Reporter, der ein wandelndes Forschungsobjekt darstellt, ist ihm wahrscheinlich noch nicht untergekommen.

Als ich ihm schilderte, wie ich im Sommer 2010 den bayerischen Innenminister Joachim Herrmann in meinem Verschwörungswahn vor seinem eigenen Verfassungsschutz retten wollte, aber gleichzeitig merkte, dass diese Idee ziemlich verrückt war, sagte er:

Sie haben schon die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es eben Paranoia sein könnte. Ja, also das finde ich – bitte jetzt nicht in den falschen Hals bekommen, das klingt etwas zynisch – aber es ist sehr interessant, was Sie da schildern.

Andreas Anton, Interview, Oktober 2020

Das Interview mit Verschwörungsfachmann Butter fand ich ebenfalls spannend, auch wenn er Sachen sagte, die ich so nicht von ihm erwartet hätte.

Auf die Frage, ob westliche Geheimdienste zu einer „Strategie der Spannung“ wie im Kalten Krieg zurückkehren könnten, überraschte er mich mit folgender Antwort:

Zuhause angekommen, schrieb ich das Manuskript komplett um und war´s zufrieden.

Auch Joachim Dicks gefiel der Text, ganz besonders eine Passage, in der ich darüber nachdachte, warum ich lange Zeit übersehen hatte, dass manche Geheimdienste offensichtlich gerne mit islamischen Extremisten kooperieren:

Der literarisch bewanderte Redakteur sagte, der plötzliche Schwenk von der Normalität ins Psychiatrische sei literarisch interessant.

Was sollte jetzt noch schiefgehen?

„Wenn der NDR dein Feature wirklich sendet, wäre das ja eine Sensation“

Trotzdem wollte ich die Lage ausloten und schickte das Manuskript einem Freund, der Redakteur in einem nicht unbedeutenden Qualitätsmedium ist.

Früher war dieser Redakteur ganz „normal“.

Eines Tages beschloss er, die kritische wissenschaftliche Literatur zu den katastrophalen Anschlägen von New York und Washington unvoreingenommen anzuschauen, statt alles präventiv als „Verschwörungstheorie“ abzutun.


Wer der englischen Wissenschaftssprache mächtig ist, möge sich diesen
…und danach diesen Artikel durchlesen.

Seitdem sieht er die Welt mit anderen Augen, muss sich aber zurückhalten, um seine Stellung nicht zu gefährden.

Er las sich mein Manuskript durch und schrieb:

Wenn der NDR dein Feature wirklich sendet, wäre das ja eine Sensation.

Du exponierst dich natürlich sehr, das bietet natürlich Angriffsfläche, kann aber vielleicht auch entwaffnend wirken.

Man müsste einmal die psychischen Defizite der Verschwörungstheorie-Gegner untersuchen, die glauben, dass in unserer offenen Gesellschaft alles mit rechten Dingen zugeht, das wäre sicher ein lohnendes Unterfangen.

Verschwörunsgredakteur an Metzger, November 2020

Je näher der Produktionstermin rückte, umso mehr bekam ich den Eindruck, Joachim Dicks sei darum bemüht, das Manuskript weiter zu entschärfen, ohne es mich merken zu lassen.

Recht spät fing er mit der Redigatur an und markierte seine Änderungen nicht, was es mühsam machte, sie nachzuvollziehen.

Manche Veränderungswünsche fand ich absurd. So hatte ich in Bezug auf den Fall Amri folgenden Satz geschrieben (ich zitiere aus dem Kopf):

„Die Bundesregierung hält weiter an der Einzeltäterthese fest. Das ist nachweislich falsch.“

Ein Shitstorm naht…

Joachm Dicks sagte, man könne nicht von der Bundesregierung reden, die einzelnen Ministerien würden den Fall möglicherweise unterschiedlich bewerten.

Aber wenn ein Grünenpolitiker das macht, warum sollte ich es dann unterlassen?

„Wie gefährlich das Schweigen für Maaßen noch werden kann“, Der Tagesspiegel, 30.8.2018.

Diese Haarspalterei raubte mir die Nerven, ich hatte keine Lust mehr auf weitere „Verwässerungen“. Trotzdem gab ich nach.

Denn auf einmal tat mir Joachim Dicks leid.

Ich hatte den Eindruck, ihm sei unwohl bei der Sache geworden und er sähe einen Shitstorm auf sich zukommen. Nebenbei hatte er angemerkt, dass mit Reaktionen aus dem Netz zu rechnen sei.

Damit hatte er sicherlich recht, weswegen ich mich innerlich schon vorbereitete…


Bei Facebook geht es oft ruppig zu. Deswegen tat ich so, als wäre ich es auch.

Wenn mein Eindruck stimmte, dann waren die fortlaufenden Verwässungsmaßnahmen nur verzweifelte Versuche, das scheinbar Unvermeidliche abzuwenden.

Am 18. November setzte ich mich spontan an den Rechner und schrieb folgende Nachricht:

Lieber Joachim,

ich bin ab jetzt bis morgen früh in Klausur und werde eine endgültige Fassung erstellen, versehen mit Fußnoten und sämtlichen Übersetzungen. Im Laufe des Tages werden die grob geschnittenen O-Töne folgen.

Mach Dir keine Sorgen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten:

1. Dir gefällt der Text und wir produzieren am 30. November.

2. Der Text bereitet Dir Bauchschmerzen, weil er dem NDR und vor allem Dir schaden könnte. In dem Fall wird er nicht produziert. Die Sache wird begraben.

Ich übernehme die volle Verantwortung. Eine Begründung, die plausibel ist und Dir hilft, das Gesicht zu wahren, wird mir einfallen. Zum Beispiel: Entscheidende O-Töne sind verloren gegangen. Das ist noch nicht mal gelogen: Das Interview mit Benjamin Strasser ist auf dem Gerät, das mir abhanden gekommen ist.

Ich werde Dir dann die Begründung schriftlich (und authentisch) mitteilen, so dass du etwas in der Hand hast.

Glaub mir. Ich stehe zu meinem Wort. Ich bin ein ehrlicher Mensch. Als erste Maßnahme habe ich die Ankündigung der Sendung von meinem Blog genommen.

Mein Eindruck ist: Du hast die politische Brisanz des Themas unterschätzt, möglicherweise auch meine Hartnäckigkeit und Rücksichtslosigkeit beim Recherchieren. Wie dem auch sei. Ich habe dafür Verständnis

Es gibt eine einzige Bedingung: Ich bekomme das volle Honorar ausbezahlt sowie 300 Euro Reisekosten.

Alles wird gut.

Metzger an Dicks, 18.11.2021, 14.51 Uhr

Zugegeben: Es ist äußerst unwahrscheinlich, das volle Honorar für ein nicht-produziertes Feature ausbezahlt zu bekommen, trotzdem war mein Angebot, alles abzublasen, ehrlich gemeint.

Aber scheinbar hatte ich Joachim Dicks völlig falsch eingeschätzt: Er war verdattert, für ihn stand fest, dass wir die Sache durchziehen.

Für mich hieß das aber umgekehrt: Er steht ab jetzt voll hinter der Geschichte und verteidigt sie im Zweifelsfalle auch nach innen.

Zumal er sich – ungeachtet meiner gerade geäußerten Kritik – für das Stück ins Zeug legte. Er engagierte einen Regisseur, der einen besonderen Ruf in der Feature-Szene genießt:

Nikolai von Koslowski.

Viel beschäftigt, aber von Joachim Dicks zum Mitmachen überredet.

Ein feiner Mensch, über den Folgendes bei Wikipedia steht:

Nikolai von Koslowski wuchs in Düsseldorf, Hannover und München auf.

Er studierte an der LMU München Kommunikationswissenschaften und begann parallel dazu in den frühen 1980er Jahren, für die Jugendfunkredaktion des Bayerischen Rundfunks „Zündfunk“ zu arbeiten.

Dort entwickelte er den für ihn später typischen Stil für Sprecherführung und Regie. Viele neue Konzepte des Zündfunks der 1980er Jahre gehen auf ihn zurück, unter anderem die Reihe „Blitzventil“.

Dabei fuhr der Journalist Lorenz Schröter mit dem Fahrrad um die Welt und schickte regelmäßig Tagebuchberichte auf Tonbandcassetten ins Funkhaus, die Koslowski dann radiophon aufbereitete.

Auch die erste Computersendung in der ARD, „Bit, byte, gebissen“ (BR 1983), war von Koslowskis Idee. Aus ihr entstand wenig später unter dem gleichen Titel ein wöchentliches Magazin über Computer für junge Hörer.

Nikolai von Koslowski (Wikipedia)

Ein echter Pionier, wie mir scheint, dazu mit Preisen überhäuft.

Nikolai von Koslowski las sich das Stück durch und machte einen phantasievollen Vorschlag: Er sagte, die Teile des Manuskripts, wo ich über meine persönliche Rolle in der Geschichte nachdenke, sollte ich frei ins Mikrofon sprechen, statt sie abzulesen.

Das gab dem Feature noch mal eine eigene Dynamik.

Am 30. November gegen 9:00 Uhr morgens traf ich im NDR Studio in der Hamburger Rothenbaumchaussee ein, um meine Passagen einzusprechen.

Es war ein nebeliger Wintertag, so wie ich ihn mag; oft sind diese Tage bedeutungsschwer und nachmittags isst man Lebkuchen.


Als ich ankam, stand vor der Einfahrt ein Mann mit Plakat: „Der NDR ist eine Fake-News-Schleuder.“ Er machte das seit Wochen, wie mir die Torwache erzählte.

Ich freute mich auf das Zusammentreffen mit Dicks und von Koslowski. Nachdem alles fertig war, gingen wir raus und unterhielten uns ohne Maske.

Den beiden war klar, dass das Feature Wellen schlagen könnte. Nikolai von Koslowski sagte, Geheimdienste und ihr Bezug zu Terrorismus seien kein gern gesehenes Thema.

Wir phantasierten ein wenig: Wäre es vielleicht eine gute Idee, nach Ausstrahlung des Features zeitnah eine Talkrunde zu organisieren, wo einige Kontrahenten sich kritisch mit dem Inhalt auseinandersetzten?

„Das ist Deine Geschichte!“

Ich sagte, das wäre natürlich super für mich, woraufhin der Regisseur sagte: „Das wäre auch gut für den Sender.“

Was konnte er damit meinen?

Ich fragte nicht nach, aber ich denke es mir einfach: Es hätte gezeigt, dass der NDR bereit und in der Lage ist, kontroverse Themen anzugehen, ohne sich wegen eines möglichen Shitstorms gleich in die Hosen zu machen, wie es Mode geworden ist.

And so we parted.

Ein paar Tage später war die Produktion vollendet. Bevor ich mir das Stück anhören konnte, rief mich Joachim Dicks an, er war offensichtlich angetan.

„Das ist Deine Geschichte!“, sagte er. Auch die Musik, die ich rausgesucht hatte, gefiel ihm, es käme eine „gewisse Coolness“ rüber.

Spontan ging mir dieser Schnappschuss durch den Kopf:

„All we need is Radio Ga Ga, Radio Googoo, Radio Blabla…“

Wir plauderten ein wenig und waren uns einig, dass die Zusammenarbeit letztlich sehr fruchtbar war. Ich hatte viel Zeit aufgewendet, Joachim Dicks aber auch; er sagte, er würde das nicht bei jeder Geschichte machen.

Allerdings geschah schnell das, was er befürchtet hatte: Es meldete sich ein anonymer Stinkstiefel, der seinen Schmutz auf der Seite von NDR Info hinterließ.

Regel Nr. 1: Keinen Rückzieher machen

Sein Name war „Roland“ und bereits am 9. Dezember, also vier Tage vor der Ursendung, schrieb er in die Kommentarspalte unter der Ankündigung des Features:

Der Autor des NDR-Feature „Der Islamismus – Bin ich ein Verschwörungstheoretiker?“ hat auch einen Blogbeitrag über sein noch nicht veröffentlichtes Buch geschrieben. Zitat aus diesem Text:

„Menschen, die an die „heiligen Ereignisse“ 2001 und 2011 glauben, bezeichnen alle, die sie hinterfragen als „Verschwörungstheoretiker“, welche digital verbannt oder wenigstens korrigiert werden müssen (am besten von Correctiv).“ (Quelle: Blog von Albrecht Metzger)

Ich verbleibe in der Hoffnung, dass ihr kein Feature eines Autors veröffentlicht, dessen Halbwahrheiten und Verschwörungsmythen hinterher von den Faktencheckern u.a. von der Tagesschau und von Correctiv richtig gestellt werden müssen.

„Roland“ an den NDR, 9.12.2020, 23.01 Uhr

Ich war natürlich auf solche Kommentare vorbereitet und bereits in Kampfeslaune.

Eine wichtige Regel in der Online-Kommunikation lautet: Keinen Rückzieher machen, sondern nach vorne gehen.

Wenn man dem Mob entgegenkommt und sich rechtfertigt, werden diese Leute erst richtig frech.


Später stellte sich heraus, dass der wahnsinnige Roland, bis 2015 bei ZEIT Online tätig, auch auf twitter gegen mich agitierte.

Also schrieb ich Rolli eine Antwort und schickte sie zur Begutachtung an die Kommentarredaktion.

Ich bedankte mich für seine Fürsorge und bestätigte seine Befürchtungen: Demnächst werde es auf meinem Blog richtig zu Sache gehen, und zwar genau zu den Themen, die er so liebte.

Der NDR gab meinen Kommentar nicht frei, aus mir unbekannten Gründen.

Stattdessen stellten sie mein Feature am 10. Dezember online, ich konnte den Beitrag also endlich anhören.

Die Ankündigung lautete wie folgt:


Für den weiteren Verlauf der Geschichte ist dieser Text nicht unbedeutend: Denn wie unschwer zu erkennen ist, konzentrierte sich der NDR auf den Fall Anis Amri, während für mich der Dschihad in Syrien mindestens genau so wichtig war.

Entsprechend anders klingt der Vorschlag, den ich als Ankündigungstext eingereicht hatte, den Joachim Dicks aber verwarf:


Tatsächlich hatte ich stets ganz bewusst in Ich-Form geschrieben um klar zu machen:

So sehe ich das, basiend auf meiner langjärigen Erfahrung mit dem Thema. Ferner wollte ich mit dem Text andeuten, dass viele Experten sicher anderer Meinung sind und ich bereit bin, darüber zu diskutieren.

Wir werden gleich sehen, warum diese gegensätzliche Herangehensweise von NDR und Autor zu einer Explosion sondergleichen führte.

„Es ist wirklich ein sehr ungewöhnliches Stück Radio geworden!“

Doch noch ahnte ich nichts Böses. Im Gegenteil.

Am Abend schickte mir Nikolai von Koslowski eine nette Nachricht:

Lieber Albrecht,

ich hoffe, Du hast Dein Feature schon gehört.

Mich interessiert natürlich, wie es Dir gefällt. Bei allem ernst, finde ich es an einigen Stellen recht komisch, was ja auch mit der Thematisierung von Humor zu tun hat.

An einigen Stellen mussten wir kürzen. Bologna hat weh getan. Ansonsten hatte ich versucht in homeopathischen Dosen zu kürzen. Deine Sprecherpassagen fand ich gut gesprochen..

Du bist ein lustiger und intelligenter Typ. Das gefällt mir!

von Koslowski an Metzger, 10.12.2020, 18.59 Uhr

Meine Antwort, die ich an beide schickte:

Lieber Nikolai,

danke für deine E-Mail. Ich höre mir das Feature heute Abend gemeinsam mit einem Freund an, der es aus der Ferne mitbegleitet hat. Ich bin sehr gespannt!

Das mit dem Kürzen ist bedauerlich, aber es war abzusehen und ich habe alles in Eure Hände gegeben, also werde ich mich nicht beklagen.

Ich habe auch schon positives Feedback zur Musik bekommen, eine Frau sagte, sie war froh über die Musik, da hätte sie zwischendurch Luft holen können.

Das Feature weckt unterschiedliche Emotionen bei den Menschen, ein sehr alter Freund von mir musste weinen und sagte, vielleicht würden sich auch andere Menschen darin wieder finden mit ihren „Problemen“, bei Dir trat erstmal das „Komische“ in den Vordergrund.

Ich finde das gut, das zeigt die Vielschichtigkeit des Features. In jedem Fall finden die Leute die Sendung“komplex“, und auch das finde ich gut. Wenn so ein brisantes Thema „komplex“ rüber kommt, dann ist es eben das: komplex und nicht vereinfachend.

Das Einsprechen am Morgen in der Rothenbaumchaussee war für mich ein besonderer Moment, die ganze Szene hat mir gefallen, mit Dir, Joachim und den beiden Technikerinnen. Vielen Dank!

Es würde mich freuen, wenn sich noch einmal eine Zusammenarbeit ergäbe.

Metzger an von Koslowski und Dicks, 11.12.2020, 08.05 Uhr

Nun schaltete sich auch Joachim Dicks in die Konversation ein:

Lieber Albrecht,

dann bin ich sehr gespannt, wie Du es findest.

Die Erwartung bei einigen Kommentatoren auf unserer NDR-Feature-Seite sind jedenfalls groß; manche waren sogar ungeduldig, weil das Stück versehentlich erst einen Tag später online gestellt worden ist.

Seid beide herzlich gegrüßt

Dicks an Metzger und von Koslowski, 11.12.2020, 12.17 Uhr

Am Abend hörte ich mir das Feature gemeinsam mit zwei Freunden an. Sehr lustig ich fand ich, dass der Regisseur die Passage, in der ich von Joachim Herrmann und meiner Paranoia erzählte, mit bayerischer Blasmusik untermalt hatte.

Ich schrieb den beiden am nächsten Morgen:

Hab´s mir angehört.

Bin begeistert, gerade auch das Spielen mit der Musik. Kürzungen sind kein Problem für mich, der Stoff ist hart genug, das Bologna-Zitat hätte für endgültige Depression bei manchen Leuten sorgen können.

Mein Freund sagte, in Kollaboration sei ein Kunstwerk entstanden.

Metzger an von Koslowski und Dicks, 12.12.2020, 08.36 Uhr

Die Antwort des Regisseurs:

Ach, das freut mich!

Es ist wirklich ein sehr ungewöhnliches Stück Radio geworden!

Danke Dir, dass ich da mitmachen konnte.

Liebe Grüsse

Nikolai

von Koslowski an Metzger, 12.12.2020, 13.59 Uhr

Ich veröffentliche diese E-Mails ohne Genehmigung der beiden Kollegen, normalerweise wäre das moralisch fragwürdig.

Zum einen ist der Inhalt aber – zumindest aus meiner Sicht – durchweg positiv und in keiner Weise kompromittierend; zum anderen verfolge ich damit ein konkretes Ziel:

Ich möchte zeigen, wie erleichtert und froh ich war, dass alles reibungslos über die Bühne gegangen war, denn das Feature hatte Bedeutung für mich.

Ich wähnte den NDR – den ich logischerweise mit den Leuten gleichsetzte, mit denen ich zu tun hatte – an meiner Seite.

Nur vier Stunden später wurde ich eines besseren belehrt. Der U-Turn des Senders kam wie aus heiterem Himmel. Bis heute weiß ich nicht, was in der Zwischenzeit passiert ist.

Gegen 18 Uhr rief mich ein Freund an und sagte, das Feature sei nicht mehr abrufbar. Ungläubig schaute ich auf die Webseite von NDR Info und fand das hier:

Hä?

Sofort schrieb ich den beiden eine E-Mail und bat um Aufklärung. Wenige Minuten später rief mich Joachim Dicks an und erzählte – offensichtlich selbst noch geschockt – was geschehen war:

Ihm sei vorgeworfen worden, die produzierte Fassung würde vom eingereichten Exposé abweichen, es hätte doch nicht um mich gehen sollen, sondern um den Fall Amri. Er hätte das vorher melden müssen.

So einen Schwachsinn hatte ich noch nie gehört!

Der NDR-Redakteur sagte, so etwas sei ihm auch noch nicht passiert, es sei aber richtig, dass er die Änderungen hätte melden müssen. (Wem denn? Angela Merkel? Ich vergaß zu fragen…)

Wohlgemerkt: Joachim Dicks leitete in den Monaten vorher in Krankheitsvertretung die Abteilung „Radiokunst“ beim NDR, vielleicht sogar noch im Dezember (ich weiß es nicht genau).

Um mich offensichtlich zu beschwichtigen, sagte er, man könne aus neuen Situationen immer etwas lernen. Ich sollte mich auf Veränderungen vorbereiten, möglicherweise müsste ich erneut ins Studio kommen, um Texte einzusprechen.

Es gab nichts mehr zu besprechen!

Ich war aber überhaupt nicht in Lernstimmung und nach monatelanger Arbeit in keiner Weise bereit, weiter an dem Stück rumzuwerkeln.

Für mich war sofort klar: Es ging nicht um diese Lappalie, sie war vorgeschoben, weil ihnen (wem?) auf die Schnelle nichts besseres eingefallen war.

Wegen eines „verfehlten“ Exposés sägt man nicht in letzter Sekunde ein Feature ab – schon gar nicht, wenn es die ganze Welt bereits hören konnte und sich der Download im Umlauf befindet!

Sowas ist peinlich, warum sollte sich der NDR das antun?

Das Stück hatte alle regulären Prozesse durchlaufen: Die Feature-Redaktion war stets im Bilde gewesen und begleitete jeden Schritt, den ich tat, ich ging auf alle Veränderungswünsche ein. Zum Schluss gab der Justiziar sein Plazet und die Geschichte wurde veröffentlicht.

Es gab nichts mehr zu besprechen. Punkt.

Und überhaupt: Wann hätte denn das überarbeitete Feature gesendet werden sollen? Wir hatten Mitte Dezember, am 31. Dezember stellte NDR Info die Produktion solcher Stücke ein, mittlerweile gibt es nur noch Podcasts von weitaus geringerer Länge.

(Später sagte mir eine NDR-Redakteurin, die den Fall aus der Ferne mitbekam, dass sie es für äußerst unwahrscheinlich hielt, dass der Sender wirklich vorhatte, das Feature nach einer Überarbeitung wieder ins Programm zu nehmen.)

***

Meine Energie und Bereitschaft, das Feature gegen Sabotageversuche in den sozialen Medien zu verteidigen, übertrug sich nun auf den NDR. Ich sagte Joachim Dicks, ich würde die Sache auf allen Kanälen bekannt machen, und zwar rauf und runter.

Eindringlich bat er mich, das zu unterlassen, es würde die Chancen mindern, das Stück noch zu retten.

So beendeten wir das Gespräch.

„Der NDR kriegt Druck von ganz oben, da bin ich mir sicher“

Als erstes kramte ich das Exposé hervor und las es mir durch. Dann schrieb ich Joachim Dicks eine Nachricht:

Lieber Joachim,  

im Anhang das Exposé vom November 2019. Es stimmt nicht, dass es von der jetzigen Geschichte signifikant abweicht. Die Begründung, das Feature müsse deswegen erneut geprüft werden, klingt für mich fadenscheinig.  

Ich möchte Dich bitten, diese E-Mail an diejenigen Personen weiterzuleiten, die auf diese merkwürdige Idee gekommen sind.  

Metzger an Dicks, 12.12.2020, 18:53 Uhr

Eine halbe Stunde später schickte mir der Regisseur eine kurze Nachricht:

Bin gespannt, was der Justiziar dazu sagt, dass eine von ihm abgenommene Sendung noch gestoppt wird.

von Koslowski an Metzger, 12.12.2020, 19.27 Uhr

Meine Antwort:

Habe gerade mit Joachim telefoniert, hier ist die Begründung:

Das Exposé würde von der Sendung abweichen, das hätte Joachim den oberen Chargen mitteilen müssen (wer immer das ist..).

Das ist lächerlich!

Der NDR kriegt Druck von ganz oben, da bin ich mir sicher. Ich habe für so etwas ein gutes Gespür.

Wenn sie die Geschichte nicht senden, werde ich das rauf und runter bekannt machen (morgen wird sie jedenfalls nicht gesendet).

Anbei das Exposé vom 4. November 2019, mach dir selbst ein Bild.

Ich bin gespannt, wie es weitergeht.

Metzger and von Koslowski, 12.12.2020, 19.34 Uhr

Zwanzig Minuten später schickte ich dem Redakteur eine weitere Nachricht, der ich dieses Dokument beifügte:


Ich schrieb:

Als weiteren Backup schicke ich Dir den Begleitbrief, den ich an alle Interviewpartner geschickt habe.

Dort steht, dass ich meine jahrzehntelangen Erfahrungen mit dem Islamismus „reflektieren“ werde.

Ich möchte dich bitten, auch diese E-Mail plus Anhängen an die betreffenden Personen beim NDR weiterzuleiten.

Verbunden mit dieser Frage: Seit wann entwirft der NDR seine Geschichten am Reißbrett?

Ein Exposé ist ein Exposé, nicht die Geschichte. Es ist vollkommen klar, dass sich eine solch aufwändig recherchierte Geschichte im Laufe der Zeit entwickelt.

Hinzu kommt: Deine Intervention im September 2020 hat die Geschichte eigentlich erst zu dem gemacht, was sie ursprünglich sein sollte:

Eine persönliche Geschichte, in der ich meine Erfahrungen über das Thema reflektiere, gemeinsam mit meinem Freund, dem Verfassungsschützer Benno Köpfer.

In der ersten Fassung – die ich angehängt habe – war das gar nicht der Fall.

Insofern frage ich mich: Wo ist das Problem?

Metzger an Dicks, 12.12.2020, 19.57 Uhr

Ich bekam auf diese E-Mails keine Antwort, vielleicht weil es schon Abend war?

Jedenfalls blieb ich alleine mit meinen Überlegungen, wie ich weiter vorgehen sollte.

Der ausgedachte BND-Mann

Als der nächste Tag angebrochen war, stand meine Entscheidung fest:

Ich wollte in diesem Fall nicht klein beigeben, selbst wenn ich den NDR als Kontakt verlieren würde. Mich empörte die Vorgehensweise des Senders, die nicht nur ein Affront gegen mich darstellte, sondern auch gegen Joachim Dicks, einen arrivierten Redakteur.

Ich beschloss, in die Offensive zu gehen, und zwar auf meine Weise….

Gegen Mittag setzte ich mich an den Computer, öffnete mein Facebookprofil und erzählte meinen Followern, dass das Feature abgesetzt sei.

Dann dachte ich mir eine Geschichte aus, was der Hintergrund sein könnte:


Abgesehen von dem erfundenen BND-Mann wählte ich eine bewusst provokante Sprache, die aus einem Marxistenseminar anno 1970 stammen könnte.

Seit Jahren hatte ich Facebook als Spielwiese benutzt um zu erfahren – und zwar auch an mir selbst -, welche Wirkung Texte in sozialen Medien entfalten können.

Nicht immer stimmte alles, was ich so schrieb.

Ethisch fragwürdig? Vielleicht.

Aber wir leben in einem disruptiven Zeitalter rasanter technologischer Entwicklungen, in dem das Experimentieren notwendig ist, um die neuen Realitäten kognitiv zu erfassen.

Das ist jedenfalls meine Meinung und ich hielt mein Vorgehen für eine Arbeit Pionierarbeit.

Meine Leserinnen wies ich wiederholt darauf hin, dass sie nicht alles für bare Münzen nehmen sollten, was mir spontan aus der Feder floss, zudem erinnerte ich sie gelegentlich daran, dass bei mir mit Sicherheit Nachrichtendienste mitläsen.


Mein Abschiedsgruß an Mark Zuckerberg et. al.

Mittlerweile habe ich mein Facebook-Experiment eingestellt, im übrigen möchte ich betonen, dass die meisten Texte, die ich dort verbreitet habe, lauter und ehrlich waren.

Mein Gewissen ist rein.

Geheimdienste und ihre Methoden

In diesem Fall fand ich mein Täuschungsmanöver allerdings berechtigt, ich sah mich als Individuum einem ganzen Apparat gegenüber und suchte nach Möglichkeiten, das Heft in die Hand zu bekommen.

Wichtig in solchen Situationen ist, zu agieren und die anderen reagieren zu lassen, um den Lauf der Dinge zu bestimmen.

Dieses Vorgehen ist sicher auch auf meine langjährige Beschäftigung mit Geheimdiensten und ihren Methoden zurückzuführen, Diskurse in sozialen Medien zu lenken und Desinformation zu verbreiten.

Das färbt ab (nolens volens…).


Einen wie mich könnten sie gebrauchen, allein, mir fehlt die Lust.

Um weiter Bewegung in die Sache zu bringen, formulierte ich eine forsche E-Mail, die ich an Joachim Dicks schickte. Wichtiger noch: ins CC setzte ich Joachim Knuth, den Intendanten des NDR.

Zunächst bedankte ich mich für die Zusammenarbeit, dann stellte ich Bedingungen:

Bevor sich von meiner Seite irgendetwas bewegt, verlange ich von der Person, die die Absetzung zu verantworten hat, eine schriftliche Begründung.

In dieser Begründung müssen folgende Fragen beantwortet werden:

1. Mein Feature „Der Islamismus“ ist über Wochen von NDR Info angekündigt worden. Das Endprodukt ist vom Justiziar abgenommen worden. Vom 10. Dezember  bis 12. Dezember um 17.00 Uhr war das Feature online abrufbar, dann wurde es heruntergenommen.

Meine Frage lautet: Wie kommen Sie dazu, mein Feature 18 Stunden vor offizieller Ausstrahlung aus dem Programm zu nehmen, ohne mich vorher zu kontaktieren?

2. Der Verdacht liegt nahe, dass eine Intervention von außen stattgefunden hat. Wenn ja: Wer war das?

In diesem Fall verlange ich konkrete Informationen, egal von wie hoch die Intervention kam:

a. Name der Institution

b. Name der intervenierenden Person/en

c. Begründung der Intervention.

Metzger an Knuth, 14.12.2020, 8.33 Uhr

Ich erwartete nicht ernsthaft, eine Antwort auf meine Fragen zu erhalten, aber der NDR musste nun reagieren, das war klar.

Am Montag Abend des 14. Dezember stellte der Sender eine Stellungnahme auf seine Webseite, in der er sein Verhalten begründete.

Da sie mittlerweile wieder vom Netz genommen wurde, zitiere ich sie in Gänze:

Hinweis der Redaktion: Nach einer intensiven Diskussion und einer erneuten Überprüfung haben wir uns entschieden, das Feature „Der Islamismus – ein `verteufelter` Freund des Westens? Oder: Wie ich lernte, mit Verschwörungsgedanken zu leben“ von Albrecht Metzger nicht im Radioprogramm von NDR Info zu senden und nicht mehr zum Download anzubieten.

Das künstlerische Feature spielt auf zwei Ebenen: Zum einen geht es um die Frage, ob westliche Geheimdienste islamistische Terroristen für ihre Zwecke unterstützt haben könnten, zum anderen um eine sehr persönliche Auseinandersetzung des Autors mit Verschwörungsgedanken, auch mit einer persönlichen Lebenskrise. Die Verbindung beider Ebenen ist ungewöhnlich und dramaturgisch reizvoll. Wir sind jedoch zu dem Schluss gekommen, dass die Verbindung aus journalistischer Sicht problematisch ist; auf diese Weise wird keine Klarheit über die Rolle westlicher Geheimdienste hergestellt, zudem werden keine neuen, belastbaren Belege geliefert. Das Feature lässt eine Reihe von Personen, unter ihnen zum Beispiel den langjährigen Bundestagsabgeordneten der Grünen, Hans-Christian Ströbele, zu Wort kommen, die vermuten oder behaupten, dass westliche Geheimdienste islamistische Attentäter womöglich gewähren ließen. An vielen Stellen wird jedoch nicht ausreichend darauf hingewiesen, dass diese Darstellung spekulativ ist. Insgesamt entspricht das Feature nicht den journalistischen Qualitätsansprüchen des NDR.

Die Redaktion hat dem Autor in Aussicht gestellt, gemeinsam die Möglichkeit einer Überarbeitung des Features zu prüfen. Angesichts der anschließenden öffentlichen Äußerungen des Autors sieht die Redaktion jedoch keine Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. So hat der Autor auf Facebook dargelegt: „Die Intervention, mein Feature morgen nicht zu senden, kam von deutschen Kollaborateuren des US-Imperiums. In Frage kommt vor allem ein SPIEGEL-Redakteur, den ich für einen BND-Mann halte.“ Der NDR weist diese Unterstellungen zurück.

Wir bedauern sehr, dass das Feature nicht mehr zur Verfügung gestellt werden kann und bitten um Verständnis für die Entscheidung, die wir uns nicht leicht gemacht haben.

NDR Info, 14.12.2020

Letztlich musste also der ausgedachte BND-Mann vom SPIEGEL herhalten, um die Absetzung zu rechtfertigen. So gesehen war mein Facebook-Eintrag ein Eigentor.

Aber dann auch wieder nicht – denn ich war längst nicht fertig! Mit dieser Erklärung würde ich mich nicht zufrieden geben.

Das Spiel konnte weiter gehen.

So schrieb ich eine – diesmal sehr freundliche – E-Mail an Joachim Knuth et. al. und schlug als Lösung vor, dass sie mir die Rechte an dem Feature geben, damit ich es auf meine Webseite stellen konnte.

Mein Optimismus, als kleiner Schreiberling diesen Medienkoloss zum Einlenken zu bringen, war unbegründet, aber groß.


In der Sure „Die Kuh“ heißt es: „Taub, stumm und blind, können sie dann (aus ihrer Verirrung) nicht umkehren.“

In dem ganzen Tohuwabohu ereigneten sich auch lustige Dinge, von denen ich jetzt erzählen möchte.

So erhielt ich am 16. Dezember eine E-Mail eines muslimischen Aktivisten, dessen Organisation mir wohlbekannt war.

Er fragte, ob er ein Interview mit mir über die Absetzung des Features machen könnte. Das war sicher nett gemeint, aber es reicht ein Click um herauszufinden, dass seine Organisation von sämtlichen Behörden als „antisemitisch“ eingestuft wird.

„Möge Allah Ihre Sippe segnen!“

Mit solch einem Interview wäre der NDR alle Probleme los gewesen, denn wer mit wirklichen (oder auch nur vermeintlichen) Antisemiten redet, ist erledigt.

(Tatsächlich ist das eine bewährte Methode von Nachrichtendiensten, um unbequeme Zeitgenossen gewaltlos ins Abseits zu manövrieren, aber das nur nebenbei…)

Ich schrieb also eine Absage und dachte mir ein paar Begründungen aus, die zum Inhalt des Features passten:

Was Ihre Interviewanfrage betrifft: Erstmal möchte ich mich bedanken.

Aber ich habe irgendwann die Entscheidung getroffen, „alternativen“ Medien (wenn ich das so nennen darf) keine Interviews zu geben und auch nicht für sie zu schreiben, egal aus welchem Umfeld sie kommen.

(Anmerkung, 29.9.2022: Diesem Vorsatz bin ich später untreu geworden, wofür mich einige Freunde rügten.)

Das kann man sicher kritisieren, aber das ist der Stand der Dinge.

Es gibt allerdings ein zweites, schwerwiegenderes Problem: Es könnte sein, dass ich wieder paranoid werde, ich muss sehen, wie sich das in den nächsten Stunden entwickelt.

Die Sache nimmt mich nervlich mit, das kann ich nicht verhehlen. Ich werde meinen Arzt konsultieren und wenn er mir rät, dass ich zurücktreten soll, werde ich das tun müssen, wohl oder übel.

Ich hoffe, Sie haben Verständnis.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und ein schönes Weihnachtsfest.

Metzger and Herrn Y., 16.12.2020, 10.29 Uhr

Das mit dem Weihnachtsfest wollte der islamische Aktivist nicht auf sich sitzen lassen, schließlich ist der Koran das abschließende Wort Gottes und Weihnachten kommt da nicht vor.


Auch der Weihmachtsmann kommt im Koran nicht vor.

Er äußerte sein Mitgefühl und versuchte seinerseits, mich behutsam in Richtung des wahren Glaubens zu schieben:

Was Ihre Paranoia angeht, so empfehle ich Ihnen auch auf diesem Weg noch einmal daran zu denken, was der Sinn des Lebens ist.

Als Islamexperte dürfte dieser Sinn Ihnen nicht entgangen sein. Alle die menschlichen Verwerfungen, die Sie recherchiert haben, sind nichtig und wertlos gegenüber dem, was Sie im Herzen tragen. Wir werden uns für Sie einsetzen. Gott schütze Sie!

Herr Y. an Metzger, 16.12.2020, 11.22 Uhr

Ich antwortete:

Vielen Dank, lieber Herr Y.! Möge Allah Ihre Sippe segnen.

Das mit der Paranoia war Spaß. Ich bin gerade nicht aufgelegt zu Interviews und Telefonaten und mir fiel keine bessere Ausrede ein.

Ich bitte Sie um Verzeihung.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr Albrecht Metzger

Metzger an Herrn Y., 16.12.2020, 13.16 Uhr

Ich gebe zu: Nicht alles, was ich in diesen Tagen machte, war nett, manches mit Sicherheit verstörend und ich würde es nicht wieder tun.

So setzte ich ein Bild von Hans-Georg Maaßen – den ich für mein Feature interviewt hatte – auf meinen Blog, darunter folgendes Zitat der amerikanischen Death-Metal-Band Slipknot aus einem äußerst gewalttätigen Musikvideo:

„Dead on the front lines.“



Per E-Mail informierte ich Maaßen über den Grund dieser Maßnahme, die er als langjähriger Leiter eines Nachrichtendienstes vielleicht gar nicht so ungewöhnlich fand:

Lassen Sie sich nicht von folgendem Beitrag auf meinem Blog irritieren, er ist Teil meiner psychologischen Kriegsführung (die Verwirrung mit beinhaltet).

Metzger an Maaßen, 14.12.2020, 17.51 Uhr

Verrückt, ich weiß, aber mittlerweile hatte ich über meine Kontakte vernommen, dass manche beim NDR dachten, ich sei psychotisch geworden – also spielte ich damit.

Gleichzeitig hatte ich andere Kandidaten im Kopf, wie ich später in einem Interview erklärte:


Noch mal: Das war nicht nett, manche Freunde fanden es unheimlich und kritisierten mich für meine Rücksichtslosigkeit.

Später schickte ich dem NDR (und speziell Joachim Dicks) eine Entschuldigung.

„Absetzung ist mit das Schlimmste, was passieren kann“

Unter Journalisten hingegen gab es solche, die meinen Zorn verstehen konnten. So etwa der Korrespondent vom Deutschlandfunk, den die Entscheidung seiner Kollegen im Norden verwirrte.

Er schrieb mir rückblickend:

Mit dem Feature kann ich verstehen, einerseits. Absetzung ist schon mit das Schlimmste, was einem als Journalist passieren kann, wenn man doch soviel Arbeit und Herz investiert hat.

Aber Deine Reaktion fand ich eben auch ziemlich harsch.

Korrespondent an Metzger, 15.9.2021, 12.18 Uhr

Wie dem auch sei: Am Vorabend des Weihnachtsfestes 2020 befand ich mich im Kampfmodus und gab erst nach, als ich bekommen hatte, was ich wollte.


Ein Apparatschik, der jede Schwiegermutter begeistert.

Mit meinem Dauerbeschuss brachte ich die Mühlen des NDR zum Mahlen und am Abend des 17. Dezember erreichte mich folgende E-Mail:

Sehr geehrter Herr Metzger,

in den vergangenen Tagen haben Sie unterschiedliche Stellen im NDR kontaktiert. Als Chefredakteur Hörfunk bin ich in dieser Sache Ihr Ansprechpartner. Ihren Wunsch nach einem Veröffentlichungsrecht zumindest für Ihre Anteile an der Produktion prüfen wir. Ich komme Anfang nächster Woche wieder auf Sie zu.

Mit freundlichen Grüßen

Adrian Feuerbacher

NDR Chefredakteur Hörfunk

Programmchef NDR Info

Feuerbacher an Metzger, 17.12.2020, 19.43 Uhr

Ich antwortete:

Sehr geehrte Herr Feuerbacher,

danke für Ihre Antwort.

„Ihren Wunsch nach einem Veröffentlichungsrecht zumindest für Ihre Anteile an der Produktion prüfen wir.“

Das wird nicht reichen, für diese Anteile brauche ich mir keine Rechte von Ihnen einholen.

Was bilden Sie sich ein?

Ich möchte die ganze Produktion auf meinem Blog veröffentlichen, also sollte Ihre Prüfung in diese Richtung gehen.

Ansonsten werden ich weiter gegen den NDR vorgehen.

Metzger an Feuerbacher, 17.12.2020, 23.07 Uhr

Am Ende einigten wir uns wie folgt: Der NDR erlaubte mir, das Feature bis zum 18. Januar 2021 auf meinen Blog zu stellen, ohne die Möglichkeit eines Downloads.

Danach entfernte ich es, für immer und ewig…


Adrian Feuerbacher und ich sind Arthur F. Burns Fellows, der eine Jahrgang 1999, der andere 2002. So ein Fellowship verbindet. Deswegen konnten wir leichter einen Kompromiss finden.

Also trug ich einen verlustreichen Sieg davon.

Denn nicht nur der NDR will nichts mehr von mir wissen, sondern auch andere Kontakte in den öffentlich-rechtlichen Medien, die meinen kleinen Amoklauf mitbekamen, halten sich seitdem bedeckt – was ich sogar verstehen kann.

Das hab ich tatsächlich geschrieben. Auweia… (Quelle: Facebook)

Aber mal ehrlich: Irgendwann musste jemand aufmucken!

Eine wirkliche Zensur gibt es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht, doch wer als freier Autor nicht das richtige Narrativ bedient, kriegt nur schwerlich Aufträge.

Ich frage mich:

Entspricht das dem Geist einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung?

Ungeachtet dessen machte es sich bezahlt, darauf bestanden zu haben, das Feature auf meinen Blog stellen zu können.

Zumindest in den sozialen Netzwerken verursachte es einigen Wirbel.


Ich bin auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk!

So in der privaten Gruppe „Ja zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ bei Facebook, die fast 10.000 Mitglieder hat, viele davon aktive Journalisten.

Ein Mitglied schrieb am 8. Januar 2021:

„…nicht sonderlich investigativ…“ WAAAAAS?

Ein Herr mit Brille stellte sich hinter den NDR:

Das mit dem Redakteur stimmt. Joachim Dicks geriet wegen der Geschichte schwer unter Beschuss und soll seitdem (so wurde mir vertraulich mitgeteilt) keine Features mehr betreuen.

Ein anderer wehrte sich gegen den Begriff „Zensur“, den ein Mitglied ins Spiel gebracht hatte. Eine erfahrene Feature-Journalistin erklärte ihm daraufhin, wie die Abläufe beim Radio sind:

Ein Dritter wiederum fand die ganze Sendung Schrott:


Am nächsten Tag bekam ich eine Freundschaftsanfrage von Christoph Fleischmann, einem studierten Theologen und Moderator beim WDR, der mittlerweile Redakteur bei der Zeitschrift Publik-Forum ist.

Auf meiner öffentlich zugänglichen Facbook-Seite schrieb er einen Kommentar, der runter ging wie Öl:


Erwähnenswert ist im übrigen, dass die Produktion eines solchen Features keine geringen Kosten verursacht:

Der Autor bekommt Geld, genau wie der Regisseur und die Schauspielerinnen, und auch die Entlohnung der festangestellten Mitarbeiter (Technikerinnen, Redakteure etc.) muss mit einberechnet werden, ebenso wie die Kosten für das Tonstudio, das Monate vorher für die Produktion gebucht und damit blockiert wurde.


Der NDR hat wohl zuviel davon

So kommt ein fünfstelliger Betrag zusammen, den der NDR mir nichts, dir nichts in die Luft blies – alldieweil Joachim Knuth seit seinem Amtsantritt viele Programme aus Kostengründen rasiert hat (so auch die Stundenfeatures, meines war eines der letzten dieser Art).


verdi.de, 12. Mai 2020.

Eine Redakteurin vom SWR sagte mir am Telefon, allein deshalb fände sie die Absetzung des Features eine Frechheit, die Sache würde ein schlechtes Licht auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk insgesamt werfen.

Aber wie sagen wir im Norden?

NÜTZT JA NICHTS!

Der zahnlose Redaktionsausschuss

Viel schlimmer war für mich, dass ich immer noch nicht wusste, warum das Feature in letzter Sekunde abgesägt wurde.

Denn der Mensch will wissen, deswegen ist er so neugierig; und wenn es ihm nicht gelingt, seinen Wissensdurst zu stillen, schlägt das aufs Gemüt.

Ich konnte mir die Entscheidung der NDR-Apparatschiks nur so erklären, dass sie ernorm unter Druck geraten waren, von welcher Seite auch immer.

Vielleicht wegen meiner verrückten Facebook-Postings?

Wer weiß…

Anfang Januar kontaktierte mich ein alter Freund, der lange Jahre für die Tagesschau in Hamburg gearbeitet hatte und jetzt im Ruhestand ist. Er wies mich auf einen Redaktionsausschuss beim NDR hin, in dem er früher aktiv gewesen sei.

Dieser (neutrale) Ausschuss sei für genau solche Fälle vorgesehen:

Wenn ein Beitrag auf Weisung von oben abgewürgt wird, könne der Ausschuss angerufen werden, um die Gründe zu ermitteln; zur Not könne er eine öffentliche Stellungnahme abgeben und die Chefetage rügen.


Ein aktuelles Beispiel für das Wirken des Redaktionsausschusses (August 2022).

Früher sei der Ausschuss eine gefürchtete Instanz gewesen, so der Freund weiter, jeder Chefredakteur musste sich gut überlegen, wenn er eine Sendung aus dem Programm nehmen wollte.

In meinem Namen schickte er eine E-Mail an seine ehemaligen Kollegen und brachte seine Verwunderung zum Ausdruck, dass mein Feature nicht den „journalistischen Qualitätsansprüchen“ des NDR genügen solle:

Ich habe mir die Produktion angehört und sorge mich seitdem – etwas polemisch gesagt – über die journalistischen Qualitätsansprüche von NDR info. Sicher ist: Diese Rufschädigung hat sich der Autor mit diesem Feature nicht verdient.

Von solch einer Sendung neue Belege für eine geheimdienstliche Zusammenarbeit mit Terroristen zu erwarten, ist naiv; den Überlegungen von Fachleuten dazu zuzuhören, muss aber erlaubt sein, und die radikale Ehrlichkeit des Autors mitsamt der „funkischen“ Aufarbeitung – ihr Regisseur Nikolai von Koslowski gehört zu den renommiertesten Hörfunk-Regisseuren Deutschlands – hat für mich das Zuhören ausgesprochen spannend gemacht.

Mit einem wütenden Eintrag von Albrecht Metzger auf seinem Blog („Die Intervention, mein Feature morgen nicht zu senden, kam von deutschen Kollaborateuren des US-Imperiums. In Frage kommt vor allem ein SPIEGEL-Redakteur, den ich für einen BND-Mann halte“) begründet der NDR, dass die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht mehr gegeben sei; die Sendung verschwindet im Giftschrank.

Albrecht Metzger findet gut, wenn der Ausschuss sich um diesen Fall kümmert; er kannte diese Institution nicht, wie er mir heute am Telefon sagte.

Ex-Tagesschau-Redakteur an NDR-Redaktionsausschuss, 6.1.2021, 19.11 Uhr

Später bat ich den Ausschuss noch mal persönlich, sich der Sache anzunehmen.

Die Antwort zeigte mir, dass ich gegen eine Gummiwand anrannte:

Wir sind aufgrund der Anfragen bereits aktiv geworden. Eine Kollegin hat mit der Feature-Redaktion gesprochen, andere haben sich Ihren Beitrag angehört, wir haben uns die Reaktionen auf den Stopp angeschaut und das Thema schließlich in unserer Sitzung besprochen. Dabei fanden wir es schon erstaunlich, dass es einen langen Entstehungsweg des Features gab, ohne dass die Frage aufkam, ob das wirklich das passende Stück für das Format ist. Zweifel gab es ja offenbar erst kurz vor der Ausstrahlung, was zu der kurzfristigen Absetzung führte. Das scheint uns nicht das optimale Vorgehen gewesen zu sein.
Wir müssen aber auch sagen, dass wir Verständnis für die Handlung und Haltung der Feature-Redaktion haben. Und wir sehen als Redaktionsausschuss zur Zeit keinen Grund, uns zu dieser Entscheidung zu Wort zu melden.

Redaktionsausschuss an Metzger, 26.1.2021, 11.15 Uhr

Zu den aktuellen Vorwürfen gegen den NDR in Kiel (August 2022), bei denen es um ein nicht geführtes Interview mit einem ehemaligen Landesminister geht, schreibt der Redaktionsausschuss übrigens Folgendes:

Den Verdacht, dass eine politische Motivation hinter der Absage des Interviews stehen könnte, macht sich der Redaktionsausschuss nicht zu eigen. Der Ausschuss sieht aber die Gefahr, dass so ein Verdacht entstehen könnte, wenn Fälle wie dieser nicht gründlich genug aufgeklärt werden.

Redaktionsausschuss des NDR, 28.8.2022, 15.15 Uhr

Na sowas…

***

Mit der Anrufung des zahnlosen Ausschusses war mein Pulver auf der Suche nach der Wahrheit erstmal verschossen, ehe mir Monate später einfiel, dass ich doch noch ein Ass im Ärmel hatte:

So war mir über Umwege zu Ohren gekommen, dass der investigative Rechercheverbund von NDR, WDR und SZ – ein Redakteur nannte ihn den „internen Geheimdienst“ – bei der Absetzung meines Features eine Rolle gespielt hatte.



Ich kontaktierte den Leiter, Georg Mascolo, und fragte nach.

Er wusste von nichts und verwies mich an Volkmar Kabisch, einen Islamwissenschaftler, von dem ich noch nie gehört hatte und der beim Rechercheverbund für IS-Bräute und Koks zuständig ist.

Nachdem einige Zeit vergangen war, schrieb ich ihn an und fragte, ob er von meinem Feature gehört hätte. Er sagte, er sei damals in der Tat um eine „Einschätzung“ gebeten worden, führte das aber nicht aus.


Er übernahm die „Einschätzung“ meines Features.

Seine Ehrlichkeit gefiel mir und ich dachte, nun könnte ich der Sache auf den Grund gehen.

Ich bat um ein Treffen in Hamburg und sagte, ich würde gerne mehr über den Vorgang wissen, ferner versicherte ich ihm, in einem Artikel, der in Planung sei, seinen Standpunkt fair wiederzugeben.

Aber Volkmar Kabisch wollte nicht. Er meinte, mit dem Statement des NDR vom 14. Dezember 2020 sei alles gesagt.

Meine Ermittlungen waren endgültig in der Sackgasse gelandet:

Die Antwort auf meine Frage

lautet also

Je ne sais pas!

Albrecht Metzger

Das Schlusswort überlasse ich Joachim Knuth (NDR):

Ich glaube, das Thema Meinungsvielfalt wird unsere Arbeit in den nächsten Jahren maßgeblich bestimmen. Wenn einige Menschen finden, dass unser Meinungskorridor eingeengt sei, müssen wir uns das genau ansehen.

Ich diskutiere das mit Redaktionen und sage: Es ist nicht gut, wenn ihr euch zu einig seid! Ihr müsst Hefe in euren Teig tun, damit es Gärungsprozesse gibt!

Intendant Knuth in DIE ZEIT, 20. März 2021, 20:53 Uhr

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The half-truth is the most dangerous form of lie, because it can be defended in part by incontestable logic.

Manly P. Hall, The Secret Destiny of America